Gefährliche Trauer
oder?«
Hester wußte, daß die Frage freundlich gemeint war, und beschloß, im gleichen Stil zu antworten.
»Und ob. Mehrere sogar.« Sie mußte lächeln. »Leider waren sie zu der Zeit ziemlich behindert.«
»Oh, ich verstehe.« Mary schüttelte lachend den Kopf. »Das ging wohl nicht anders. Aber machen Sie sich nichts draus - wenn man in Häusern wie dem hier arbeitet, weiß man nie, wem man alles begegnet.« Mit dieser optimistischen Bemerkung nahm sie das fertige Bündel in den Arm und marschierte mit schwingenden Hüften auf die Treppe zu.
Hester brachte ihre eigene Arbeit schmunzelnd zu Ende und ging dann in die Küche, um einen Heiltrank für Beatrice zu brauen. Sie wollte das Tablett gerade die Treppe hochtragen, als Septimus in der Kellertür auftauchte. Einen Arm hielt er auf merkwürdige Weise vor die Brust gepreßt, als ob sich unter seinem Jackett etwas Geheimnisvolles verbergen würde.
»Guten Tag, Mr. Thirsk«, rief Hester fröhlich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, daß er aus dem Keller kam.
»Oh - äh, guten Tag, Miss… äh, Miss…«
»Latterly«, soufflierte sie. »Lady Moidores Krankenschwester.«
»Aber ja, natürlich.« Seine verblichenblauen Augen zwinkerten nervös. »Ich bitte vielmals um Verzeihung. Guten Tag, Miss Latterly.« Er bewegte sich langsam von der Kellertür weg, wobei er einen beunruhigten Eindruck machte.
In dem Moment lief Annie an ihnen vorbei. Sie warf Septimus einen wissenden Blick und Hester ein ebensolches Grinsen zu. Annie war groß und schlank wie Dinah und hätte ein phantastisches Stubenmädchen abgegeben, aber mit ihren fünfzehn Jahren war sie zu jung und wahrscheinlich zu eigenwillig. Hester hatte sie und Maggie bereits mehrmals dabei erwischt, wie sie im Aufenthaltsraum im ersten Stock, wo der Morgentee zubereitet wurde, kichernd die Köpfe zusammensteckten, oder sich mit Augen so groß wie Radteller im Wäscheschrank über einen dieser gräßlichen Groschenromane beugten, während sie in den Schilderungen atemloser Romanzen und wilder Gefahren versanken. Gott allein wußte, was sich in ihrer Phantasie abspielte. Einige ihrer Mutmaßungen über den Mord waren weitaus schillernder als nachvollziehbar gewesen.
»Nettes Mädchen«, bemerkte Septimus abwesend. »Ihre Mutter arbeitet drüben am Portman Square als Konditorin, aber aus ihr wird bestimmt nie eine Köchin. Eine richtige Träumerin!« Seinem Tonfall nach zu urteilen, hatte er nichts dagegen. »Ist ganz vernarrt in Armeegeschichten.« Er zuckte mit den Achseln, wodurch ihm fast die Flasche unter dem Arm weggerutscht wäre. Mit hochrotem Kopf bekam er sie im letzten Moment noch zu fassen.
Hester lächelte ihn freundlich an. »Ich weiß. Sie stellt mir jede Menge Fragen. Ich glaube, daß sie und Maggie erstklassige Krankenschwestern abgeben würden. Sie sind das, was wir brauchen: intelligent und schnell und haben ihren eigenen Kopf.«
Septimus sah sie erstaunt an, und Hester vermutete, daß er noch die Art medizinischer Versorgung beim Militär gewohnt war, die vor Florence Nightingale geherrscht hatte. Alle modernen Ideen lagen außerhalb seines Erfahrungshorizonts.
»Ja, Maggie ist auch ein gutes Kind«, sagte er etwas durcheinander. »Hat viel mehr gesunden Menschenverstand. Ihre Mutter ist irgendwo auf dem Land Waschfrau. Kommt aus Wales, glaube ich, daher auch das Temperament. Ist manchmal ganz schön hitzig, dieses junge Ding, hat aber jede Menge Geduld, wenn's drauf ankommt. Hat die ganze Nacht bei der kranken Gärtnerskatze gesessen, also haben Sie wahrscheinlich recht - sie wäre vielleicht wirklich eine gute Krankenschwester. Trotzdem fände ich es jammerschade, zwei anständige Mädchen in dieses Gewerbe einzuführen.« Septimus wand sich diskret, um die Flasche unter seinem Jackett so weit nach oben zu befördern, daß sie nicht auffiel, und wußte im selben Moment, daß es ihm nicht gelungen war. Er war sich nicht bewußt, Hesters Berufsstand beleidigt zu haben. Sein Urteil entsprang den landläufigen Gerüchten, und es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, sie könnte davon betroffen sein.
Hester war hin und her gerissen, ob sie ihm die Peinlichkeit ersparen oder soviel wie möglich in Erfahrung bringen sollte. Ihn verschonen zu wollen, gewann die Oberhand. Sie riß die Augen von der Beule unter seiner Jacke los und sprach weiter, als hätte sie nichts bemerkt.
»Nun, vielleicht schlage ich es den beiden eines Tages vor. Mir wäre allerdings lieber, Sie würden es
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