Gefährliche Wahrheit - Rice, L: Gefährliche Wahrheit
Pläne kleiner. Sie schrumpften unaufhaltsam zusammen, bis er schließlich gezwungen war, Unterstützung zu beantragen, damit er eine zweitklassige Kochschule besuchen konnte.
Das hätte sein Ausweg sein können. Eine schnelle Karriere, und in ein paar Jahren würde er an der Spitze stehen. Berühmte Chefköche verdienten Hunderttausende von Dollar im Jahr, dazu kamen unter Umständen noch Millionen an Nebeneinkünften.
Er hatte sich gerade für eine erbärmliche Stelle als Gardemanger – als Koch in der verdammten Kalten Küche – in einem drittklassigen Restaurant in Rockaway beworben, als er von einer freien Stelle für einen russischen Muttersprachler hörte. In Manhattan, dem Herzen der vornehmen Küche. Und das zum dreifachen Gehalt, das er in seinem Job normalerweise verdienen würde.
Es war ein guter Job in einer ausgezeichnet ausgestatteten Küche, doch niemand wurde auf sein Talent aufmerksam. Aber was hatte er auch erwartet? Schließlich kochte er für russische Gangster. Männer, die wussten, welche Waffe man am besten in einem Kampf einsetzt, die aber keine Ahnung hatten, wenn es darum ging, die Finesse eines Crêpe oder die glatte Konsistenz einer guten Béchamelsoße zu beurteilen. Oder die auch nur das feine Porzellan zu würdigen wussten, von dem sie aßen, oder die schweren Kristallgläser, aus denen sie tranken.
Eigentlich wäre Andrej das vollkommen gleichgültig gewesen, wenn diese Männer nicht ausgerechnet die Sprache gesprochen hätten, die er verehrte. Die Sprache seiner Ahnen. Die Sprache von Puschkin und Tolstoi und Jewtschenko.
Nur dass dies nicht das Russisch war, das ihn seine Eltern gelehrt hatten. Die Sprache dieser Gangster war rau, ungrammatisch und provinziell – das Russisch ungebildeter Ganoven. Gossenrussisch, das nur für Gossenkinder taugte.
Aber die Bezahlung war so gut, dass er gezwungen war zu bleiben, auch wenn jeder einzelne Tag seines Lebens inmitten dieser Barbaren eine Beleidigung seiner Sinne darstellte. Er betrachtete es als eine Art Schuldknechtschaft, wobei das exorbitante Gehalt, das er nirgendwo anders erzielen könnte, wie eine Schlinge um seinen Hals lag und ihn langsam erstickte.
Also studierte er seine Umgebung, suchte nach einem Ausweg. Er war ein Prinz unter Schweinen. Selbstverständlich war er ihnen allen in jeder Hinsicht überlegen. Die Küche versorgte zweimal täglich fünfundvierzig Männer mit Essen, wie ein kleines Restaurant. Sie war darüber hinaus immer geöffnet, wenn nötig, da die Männer zu jeder Tages- und Nachtzeit kamen und gingen. Das Essen war reichlich, frisch und gut, jedoch ohne Raffinesse. Nach einer Woche in dieser Küche wurde Andrej klar, dass jede halbwegs tüchtige Hausfrau fähig war zu tun, was er tat. Nur musste es halt auf Russisch sein, weil fast das gesamte Personal aus Russen und Ukrainern bestand.
Er arbeitete für einen überaus mysteriösen Mann, den man Drake nannte. Andrej wusste nur sehr wenig über ihn, und niemand erzählte ihm mehr. Am ehesten erfuhr Andrej noch etwas über Drake durch seine Freundschaft mit dem Butler, einem russischen Ukrainer namens Shota. Shota war Drake gegenüber geradezu fanatisch loyal, auch wenn Andrej einfach nicht begreifen konnte, wieso. Der geheimnisvolle Mann lebte ganz für sich allein im obersten Stock des Gebäudes und kommunizierte nur selten mit dem Personal, es sei denn über die Gegensprechanlage.
Es hatte einige Monate gedauert, ehe Andrej begriff, dass er für einen international gesuchten Kriminellen arbeitete, einen der mächtigsten Männer der Welt. Bei diesem Gedanken war es ihm eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Sicherlich gab es eine Möglichkeit, wie ihm diese Information nützlich sein könnte. Vielleicht ein Feind, an den man Informationen verkaufen könnte.
Aber das war nicht leicht, da dieser Drake aus seinem Leben ein Riesengeheimnis machte. Er hauste dort oben in einer uneinnehmbaren Festung, der Domäne eines mächtigen, unantastbaren Herrschers. Nur wenige Menschen wussten über Drakes Kommen und Gehen Bescheid. Der Mann war wie Rauch – es war unmöglich, ihn zu fassen, ihn festzuhalten.
Doch dann hatte Andrej gleich zweimal Glück. Unglaubliches Glück sogar. Shota verguckte sich in ihn, und ein Russe kam als Freund zu Drake und verließ ihn als Feind.
Es war ein Kinderspiel, Shota hinters Licht zu führen. Er war ein Romantiker und geriet schon bei schmachtenden Blicken und heimlichen Küssen in der Speisekammer vor Glück außer sich.
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