Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
innerlich dermaßen tot gefühlt, dass es sie überraschte, wenn ihr irgendwann wieder einfiel, dass sie nicht mit ihnen gestorben war?
Sie weinte, bis ihre Kehle rau war, ihr Brustkorb bei jedem bebenden Atemzug wehtat und am Ende keine Tränen mehr übrig waren.
Die ganze Zeit hindurch hielt Jack sie fest, immer noch in ihr, aber regungslos. Er versuchte nicht, mit ihr zu reden. Vielleicht war ihm klar, dass Worte ihr nicht helfen konnten. Sie hatte sowieso schon alles gehört, was es zu sagen gab.
Du musst deine Trauer loslassen. Du musst dein Leben weiterleben, Caroline. Trauer ist ein Prozess, aber du verarbeitest deine Gefühle überhaupt nicht.
Es stimmte. Manchmal überkam sie das Gefühl, dass sie in einem tiefen schwarzen Loch festsaß, auf dem Grund eines bodenlosen, luftleeren Schachts, von dem aus bloß die schwache Ahnung eines Lichtscheins am oberen Ende zu sehen war. Die Worte anderer Menschen vermochten sie kaum zu erreichen.
Also hütete Jack sich, ihr Worte anzubieten. Stattdessen gab er ihr etwas viel Besseres: den Trost seines Körpers. Bei all den Tausenden und Abertausenden von Worten, die Freunde an sie gerichtet hatten, hatte keiner je daran gedacht, sie zu umarmen, sie in einer Umarmung weinen zu lassen, wie Jack es jetzt tat.
Endlich versiegten die Tränen. Sie lag ganz still unter ihm und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Langsam und so zärtlich, dass sie hätte weinen mögen, zog er sich aus ihr zurück und drehte sich um, wobei er sie nach wie vor festhielt. Jetzt lag sie in seiner warmen, engen Umarmung, den Kopf an seiner Schulter – seiner ziemlich feuchten Schulter. Sie beherrschte in diesem Moment weder ihre Muskeln noch ihre Gedanken, fühlte sich so erschüttert wie nach einem schlimmen Unfall.
»Es tut mir leid«, sagte sie benommen.
Er wischte ihr mit irgendetwas das Gesicht ab. »Ich weiß, was ein Verlust bedeutet«, sagte er ruhig. »Geht’s dir jetzt besser?« Er griff unter ihr Haar, um ihr den Kopf zu massieren.
»Ja, danke«, sagte Caroline höflich mit tränenerstickter Stimme. Sie stutzte. Es ging ihr tatsächlich besser. Sie fühlte sich, als hätte ihr Weinanfall einen Batzen schwarzer Galle aus ihr herausgespült, der sie schon seit langer, langer Zeit vergiftete.
Er wischte ihr erneut übers Gesicht. Sie lachte halbherzig. »Ich kann nicht glauben, dass du mit einem Taschentuch ins Bett gegangen bist.«
»Das ist kein Taschentuch«, sagte er sachlich. »Das ist das Bettlaken.«
Caroline zwinkerte entsetzt. »Ich habe mir die Nase mit meinem Laken geputzt?«
»Das ist schon okay.«
Oh Gott, wie sehr sie seine Stimme liebte! So tief, so ruhig. Wenn man sie bloß in Flaschen abfüllen und als Beruhigungsmittel verkaufen könnte. Viel besser als Prozac.
»Wir können das Bett frisch beziehen.«
Wir . Ein kleines Wort, das so viel Bedeutung in sich trug. Wir können das Bett frisch beziehen.
Caroline wurde bewusst, dass ihr zum allerersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern jemand das Gefühl vermittelte, dass sie mit einem Problem nicht allein dastand. Freunde, Männer, mit denen sie sich gelegentlich verabredete – irgendwie waren sie immer zur Stelle, wenn es darum ging, zu feiern oder ins Theater zu gehen, aber mit ihren Problemen hatte sie stets allein dagestanden. Dieses spezielle Problem war dumm und unbedeutend – sie besaß jede Menge Bettlaken –, aber irgendetwas in seiner Stimme verriet ihr, dass er ihr auch dann zur Seite stehen würde, wenn es um etwas anderes als nur Bettwäsche gehen würde.
»Du wärst nicht vor Toby geflüchtet«, sagte sie. Es war keine Frage.
»Nein.« Seine Hand massierte etwas fester. »Das wäre ich nicht.«
Sie hob den Kopf von seiner Schulter, um sein Gesicht zu studieren. »Ich wünschte, ich hätte dich schon früher kennengelernt.«
Irgendetwas, eine starke Emotion, huschte über sein Gesicht. Die Kerben um seinen Mund vertieften sich, und die Haut spannte sich über seine Wangenknochen.
»Das wünschte ich auch.«
Brighton Beach
Brighton Beach, eine Gemeinde mit 150000 Einwohnern, ist ein Teil von Brooklyn. Ihr Spitzname ist »Klein Odessa«, weil die meisten ihrer Einwohner russische Immigranten sind.
Deaver war sich der Ironie durchaus bewusst, weil er den Mann, den er gleich treffen würde, in Groß Odessa – der echten Stadt dieses Namens – kennengelernt hatte. Zum ersten Mal hatte er Viktor »Drake« Drakovitch in den späten Achtzigern getroffen, als jeder vor Ort, der zwei Augen im Kopf
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