Gefaehrlicher Liebhaber - Jagd auf Jack the Ripper
warum wir noch niemanden dingfest machen konnten? Nun?“
St. John nickte geistesabwesend. Er musste die Erkenntnisse verdauen, die ihm in den zurückliegenden Stunden präsentiert worden waren.
Ein junger Mann rumpelte mit einem Wagen an ihnen vorbei, in dem er Sägespäne geladen hatte. Damit hielt er vor einem Pub. Der Wirt kam heraus, kaufte die Späne und ließ sie in die Wirtsstube bringen.
„Und jetzt? Was denken Sie, sollen wir tun?“
Walker zündete sich ein Zigarillo an und betrat den kleinen Innenhof. Mary Kellys Zimmer stand leer. Man hatte die Fenster vernagelt und ebenso die Tür, zu der der Schlüssel gefehlt hatte.
„Was ist mit Kellys letztem Lebensgefährten?“ St. John wollte sich ganz sicher sein, dass sie wirklich alle anderen Möglichkeiten ad Acta legen konnten.
„Dieser Barnett?“ Walker schien wenig begeistert, dass jemand seine Idee vom Five to Twelve Club infrage stellen wollte.
„Ja. Er war eifersüchtig. Wollte nicht, dass sie sich als Wirtin für andere Huren betätigte. Und schon gar nicht, dass sie selbst auf den Strich ging. Was, wenn die anderen Opfer bei ihr logiert haben, und er wollte sie aus dem Weg haben? Haben wir das mal überprüft?“
„Barnett hat ein Alibi. Er hat mit Freunden Karten gespielt.“
„Die Beschreibung vieler Zeugen passt auf ihn“, hob St. John an.
„Die Beschreibung passt auf viele Männer“, versetzte Walker wie bei einem Tennismatch.
„Der Ripper muss körperlich stark sein. Barnett ist es. Er war auf dem Fischmarkt beschäftigt und im Moment, als er seine Arbeit verloren hat, gingen die Morde los.“
„Herrgott, St. John! Viele Männer hier sind stark und arbeiten auf den Märkten. Was soll denn das für ein Argument sein?“
Er warf das Zigarillo zu Boden und zertrat es.
„Ich will doch nur alle Argumente aus dem Weg räumen, ehe wir uns an die großen Fische wagen!“
„Ja. Gewiss. Vielleicht wollen Sie auch lieber, dass es ein Joseph Barnett sein solle anstatt eines Mitglieds Ihrer eigenen Klasse …“
Das ging St. John zu weit. Er warf noch einen Blick auf das verbarrikadierte Zimmer und marschierte davon.
Im Pub wurden gerade die Sägespäne am Boden verteilt. Er kaufte sich ein Bier und setzte sich an eines der dick verglasten Fenster. Wie er erwartet hatte, kam ihm Walker nach, kaufte sich ebenfalls einen Drink und setzte sich zu ihm.
„Nun?“, versetzte St. John.
„Ich gehe den Herren vom Five to Twelve an den Kragen. Machen Sie mit oder lassen Sie es. Aber ich sage Ihnen noch eines: In diesem Club hat auch jemand verkehrt, den Sie sehr gut kennen.“
Im ersten Impuls dachte St. John an seinen Vater verwarf den Gedanken sofort wieder.
Dann blieb nur einer …
Walker fixierte ihn und nickte.
„Genau. Er hat im Five to Twelve als eine Art Lustknabe der Herren gearbeitet. Deswegen finden sie nichts mehr in seinen Akten. Sie haben damals den hübschen Iren von der Straße geholt und im Club anschaffen lassen …“
Das war zu viel. St. John leerte seinen Krug.
„Tut mir leid … aber …“
„Wir kriegen den Ripper und seine ganze verdammte Sippschaft. Sie und ich! Wir kriegen ihn!“
„Seine Lordschaft befindet sich in der Bibliothek“, erläuterte ein Butler mit herabgezogenen Mundwinkeln. Er wirkte noch viel überheblicher als Berner, stellte St. John fest, während er sich in einen weiter nach hinten gelegenen Teil des mächtigen Stadthauses führen ließ.
Montague Williams, Duke of Mensford, gehörte seit Schultagen zu seinem Freundeskreis. Er war groß, mit einem leichten Bauchansatz und blonden, zu einem Seitenscheitel gekämmten Haaren. Das freundliche Lächeln, mit dem er St. John begrüßte, ließ ihn an einen hochgeschossenen Lausbuben denken.
„Richard St. John! Was treibt dich in diese düstern Hallen?“
Mit weit ausgestreckter Hand bedeutete er St. John, sich in einen der dick gepolsterten, ledernen Clubsessel zu setzen.
„Na, was machst du so den ganzen Tag? Schmückst du Christbäume?“ Er lachte sein fröhliches Schulbubenlachen. Nichts an ihm schien von dem Snobismus geprägt zu sein, den sogar der Butler in diesem Haus zur Schau trug.
Jovial
und
herzlich
schienen die für den jungen Mann aus dem Hochadel die treffendsten Attribute zu sein. Ohne Hilfe eines Dieners schenkte er zwei Gläser ein, dann setzte er sich ebenfalls.
Seine Beine, die er übereinanderschlug, waren von beträchtlicher Länge und gaben ihm etwas Dandyhaftes, das er stets pflegte, wie St. John wusste.
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