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Gefährliches Geheimnis

Gefährliches Geheimnis

Titel: Gefährliches Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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er der Liebe fähig war, die Menschen verbindet. Manchmal ist es einfacher, eine Sache zu lieben als einen Menschen. Die Anforderungen sind verschieden. Mit ins Auge stechender Klarheit – wie der saubere Schnitt eines Rasiermessers, der so scharf ist, dass man ihn zunächst kaum spürt – sah sie, wie einfach die unkritische Abhängigkeit eines schwer kranken Menschen war, der die Hilfe eines anderen brauchte, ja, dessen Überleben von einem anderen abhing. Man hatte die Macht, unmittelbare, schreckliche Schmerzen zu lindern.
    Die Bedürfnisse einer Frau lagen ganz anders. Eine enge menschliche Bindung erforderte Toleranz, die Fähigkeit, sich anzupassen, sich einzuschränken, gelegentliche Kritik und unvernünftiges Verhalten zu akzeptieren, sich allen möglichen Klatsch anzuhören und die wahre Botschaft hinter den Worten zu verstehen. Vor allem musste der Mensch sich mitteilen, seine Träume und Ängste, Freude und Schmerz mit dem anderen teilen. Das bedeutete, den Schutzwall einzureißen, selbst wenn man wusste, dass man früher oder später verletzt werden würde. Es bedeutete, die Wunschbilder zu vergessen und die Verletzlichkeit und die mit Makeln behaftete Wirklichkeit anzuerkennen.
    Vielleicht war Kristian dessen nicht fähig oder einfach
    nicht willens. Callandra dachte an den Anfang des Jahres zurück, an die Männer, die aus Amerika gekommen waren, um Waffen für den Bürgerkrieg zu kaufen, der immer noch das Land zerriss. Sie waren Idealisten gewesen, und zumindest einer hatte es zugelassen, dass sich die allgemeine Leidenschaft über die persönliche hin- wegsetzte. Hester hatte ihr in einer ihrer langen gemein- samen Stunden davon erzählt, von der allmählichen Erkenntnis und dem Kummer. Es war eine verzehrende Angelegenheit, die für nichts und niemanden sonst Raum ließ. Sie entsprang nicht der Gerechtigkeit der Sache, sondern der Natur des Menschen. War auch Kristian so ein Mann, der zwar eine Idee, aber keine Frau lieben konnte? Durchaus möglich.
    Vielleicht war auch sie selbst schuldig, weil sie sich in ein Ideal verliebt hatte und nicht in den wirklichen Mann mit seinen weniger strahlenden Leidenschaften und Schwächen.
    Dann spielte es keine Rolle, wie Elissa war, wie tapfer und schön, wie großzügig oder wie nett, witzig oder irgendetwas. Dann war sie diejenige, die in der Ehe gefangen war und einen Ausweg suchte.
    All diese Gedanken schafften es jedoch nicht, das Bild der anderen ermordeten Frau aus Callandras Kopf zu vertreiben, dem Modell, dessen einzige Sünde es gewesen war zu sehen, wer Elissa getötet hatte. Keine Vernunft- gründe konnten ihren Tod entschuldigen. Der Gedanke, Kristian hätte sie umgebracht, war unerträglich, und Callandra wies ihn weit von sich, weigerte sich schlichtweg, ihn in Worte zu fassen.
    Es gab einiges zu tun. Callandra faltete die Zeitung zusammen, aß die letzte Scheibe Toast und ließ den kalten Tee in ihrer Tasse stehen. Bevor das Verfahren eröffnet wurde, musste sie einen Besuch machen, der all ihre Konzentration und ihre Selbstkontrolle erforderte. Sie
    hatte in dieser Angelegenheit keinen offiziellen Status. Sie war keine Verwandte, Arbeitgeberin oder Beauftragte eines der Beteiligten. Jeden Tag dabei zu sein, ohne eine Aufgabe, ohne einen Grund – außer ihrer Freundschaft –, dazu verdammt, nichts anderes zu sein als eine hilflose Zuschauerin, wäre unerträglich. Wenn sie als Vertreterin des Krankenhausvorstands dort wäre, der sich natürlich als Kristians Arbeitgeber um dessen guten Ruf und den des Krankenhauses sorgte, gäbe es eine Erklärung für ihre Anwesenheit und sogar für ihre Einmischung, falls sich die Gelegenheit dafür bot.
    Um dies zu erreichen, musste sie Fermin Thorpe aufsuchen und ihn davon überzeugen, dass dies notwendig war. Sie fürchtete sich vor dem Gespräch. Sie konnte den Mann nicht leiden, und zurzeit besaß sie weder den Panzer von Selbstvertrauen noch die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was er dachte, die ihr ihre soziale Position normaler- weise verliehen. Sie brauchte etwas, was nur er ihr geben konnte. Wie konnte sie ihn darum bitten und gleichzeitig ihre Verletzlichkeit vor ihm verbergen, so dass er diese nicht spürte und die einzigartige Gelegenheit nutzte, sich für jahrelange eingebildete Beleidigungen zu rächen?
    Je länger sie über das Gespräch nachdachte, desto einschüchternder wurde es. Sie hatte keine Zeit zu verlieren; der Prozess begann morgen. Besser, sie machte sich jetzt auf den Weg,

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