Gefährliches Geheimnis
Liebe durfte sie niemandem verraten, und so ging sie nicht auf seinen verdutzten Blick ein. »Aber wenn ich sie sehe, habe ich das Gefühl, ich hätte jemanden verloren, der mir sehr nahe stand.« Sie fuhr fort, als wäre eine Erklärung nicht nötig. »Ich frage mich, ob es anderen Menschen auch so geht. Das macht es sehr viel schlimmer für Kristian, nicht wahr?«
Über Charles’ Miene ging ein Zucken. »Ich fürchte, ja. Es tut mir Leid. Ich weiß, dass du Beck sehr bewunderst, aber
…« Er zögerte, offensichtlich unsicher, wie er seine
Gedanken formulieren oder ob er sie überhaupt aussprechen
sollte. Und doch war es offenkundig etwas, von dessen
Wahrheit er überzeugt war.
Sie half ihm. »Du versuchst, mir zu sagen, dass er auch schuldig sein kann und ich darauf gefasst sein muss.«
»Nein, eigentlich finde ich, dass man einen anderen Menschen nie so gut kennen kann, wie man ihn zu kennen glaubt«, antwortete er freundlich, »Vielleicht kann man nicht einmal sich selbst kennen.«
»Bist du jetzt freundlich zu mir«, fragte sie, »oder machst du Ausflüchte, wie sonst auch immer?«
Er sah sie bestürzt an. »Ich habe nur gesagt, was mir durch den Kopf ging. Findest du, dass ich sonst immer Ausflüchte mache?«
Er klang ein wenig gekränkt.
»Tut mir Leid«, antwortete sie schnell und schämte sich.
»Nein, du achtest nur sehr darauf, die Dinge nicht zu übertreiben.«
»Du meinst, ich bin gefühllos?«, hakte er nach.
Sie konnte Imogens Anschuldigung in seinen Worten hören, was sie ärgerte. Sie wäre nicht glücklich, mit einem Mann verheiratet zu sein, der sein Gefühlsleben so sorg- fältig verschloss wie Charles, aber er war ihr Bruder, und ihn zu verteidigen geschah instinktiv. Wenn sie spürte, dass jemand verletzlich war, versuchte sie, denjenigen zu beschützen. Wenn sie Versagen spürte, was sie selten einmal zugab, dann schlug sie um sich, um es vor den Augen anderer zu verbergen.
»Kontrolliert zu sein ist nicht das Gleiche wie gefühllos!«, sagte sie mit einem Anflug von Ärger, als spreche sie durch ihn zu Imogen.
»Nein … nein.« Er sah sie eindringlich an. »Hester …
mach nicht …«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Ich wünschte, ich könnte helfen, aber …« Sie lächelte ihn an. »Ich weiß. Es gibt nichts. Aber
danke, dass du gekommen bist.«
Er beugte sich vor und gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange, dann legte er plötzlich die Arme um sie und umarmte sie richtig, hielt sie einen Augenblick fest, bevor er sie losließ, sich räusperte und auf Wiedersehen murmelte und sich umdrehte, um zu gehen.
Callandra saß allein am Frühstückstisch, und auch sie war tief erschüttert über Elissas Bild in der Zeitung. Ihr erster Gedanke war nicht, wie es die Geschworenen im Gericht beeinflussen mochte, sondern Verwunderung, dass Elissa derart verletzlich aussah. Es war ihr schwer gefallen, als Hester ihr erzählt hatte, Elissa sei schön gewesen und habe sich in Wien leidenschaftlich und tapfer in den Kampf gestürzt. Callandra hatte in Gedanken das Bild einer harten, spröden Schönheit heraufbeschworen, eines strahlenden Gesichts, schöner Haut, erregender Farben, hübscher Augen vielleicht. Sie war nicht auf ein Gesicht gefasst gewesen, in dem sich das Herz offenbarte, in dem die Träume nackt und der Schmerz der Enttäuschung für jedermann zu sehen waren. Wie hatte Kristian aufhören können, sie zu lieben?
Warum hörten Menschen auf zu lieben? War es mehr als eine Schwäche in ihnen selbst, eine Unfähigkeit, zu geben und immer wieder zu geben, eine Selbstsucht? Durch ihren Kopf rasten alle Erinnerungen, die sie an Kristian hatte, die langen Stunden, die sie beim Ausbruch der Typhusepi- demie in Limehouse zusammen verbracht hatten, und später die vielen Male, die sie ihm im Krankenhaus begegnet war. Sie sah, als passierte es jetzt gerade, sein Gesicht im
flackernden Licht der behelfsmäßigen Notaufnahme vor sich, erschöpft, voller Sorgenfalten, die Augen dunkel um- schattet in ihren Höhlen, aber er hatte weder Gemütsruhe noch Hoffnung je verloren. Er hatte versucht, den Sterben- den ihre Qualen zu erleichtern, nicht nur ihre körperlichen Schmerzen, sondern auch ihre Angst und ihren Kummer.
Oder rief sie es sich so ins Gedächtnis, wie sie es gerne gehabt hätte? Sie dachte, sie sei eine scharfsichtige Realistin, aber vielleicht dachte das jeder von sich!
Selbst wenn Kristian bei der Arbeit mit den Kranken so war, wie sie ihn sah, bedeutete das nicht, dass
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