Gefährliches Geheimnis
hat. Wenn Imogen ihn auch gesehen hat, könnte das helfen, so viel berechtigte Zweifel zu erzeugen, dass man Kristian freilassen muss.«
Charles war sehr blass, sah in dem gelben Gaslicht fast
gelbsüchtig aus. »Verstehe«, sagte er langsam. »Ihr möchtet, dass sie aussagt.«
»Ja!« Dem Himmel sei Dank, er hatte es verstanden.
»Ich fürchte, es ist notwendig.«
Schweigen erfüllte den Raum bis in den letzten Winkel. Man hörte nichts, außer dem leisen Zischen der Flammen im Kamin, als sie aufloderten und an den frischen Kohlen fraßen, die Monk aufgelegt hatte.
»Es tut mir Leid«, sagte Hester leise.
Ein winziges Lächeln huschte über Charles’ Miene.
Die Tür ging auf, und Imogen kam herein. Sie hatte sich angezogen, sich aber nicht die Mühe gemacht, das Haar aufzustecken; es hing ihr in dunklen Locken um den Kopf. Bevor sie ins Lampenlicht trat, hätte sie einen kurzen Augenblick auch eines von Allardyces Gemälden von Elissa sein können, das lebendig geworden war.
»Was ist los?«, fragte sie und sah Hester an. »Was ist passiert?«
Charles übernahm das Antworten. Es war deutlich, dass er einerseits versuchte, die Sache rasch und ehrlich über die Bühne zu bringen, andererseits aber auch den Schlag abschwächen wollte, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Er hätte wissen müssen, dass das unmöglich war. Vielleicht wusste er es, aber eine eingefleischte Gewohnheit ließ sich nicht so leicht abschütteln. »Allardyce wurde in der Nacht, in der Mrs, Beck umgebracht wurde, in der Nähe seines Ateliers gesehen«, fing er an. »Das bedeutet, dass er letztendlich doch schuldig sein könnte. Die Person, die ihn gesehen hat, hat auch dich gesehen …« Er wurde rot, als ihr Körper sich versteifte. »Und wenn du ihn gesehen hast, wäre das ein zusätzlicher Beweis dafür, dass er tatsächlich dort war.«
»Warum sollte irgendjemand daran zweifeln?«, fragte
sie schnell. »Wenn die andere Person sagt, sie hat ihn gesehen, sollte das doch ausreichen, oder?«
Charles sah Monk fragend an.
»Er ist ein Freund von Kristian Beck«, antwortete Monk.
»Man glaubt vielleicht, dass er es nur behauptet, um
Kristian beizustehen. Er braucht eine Bestätigung.«
Imogen sah Charles mit großen Augen an. Hester versuchte, ihre Miene zu deuten. Es lag mehr als nur Angst darin. War es Scham, eine Art von Entschuldigung, weil sie öffentlich zugeben musste, wo sie gewesen war und dass sie ohne ihn ausgegangen war? Es würde ihn öffentlich demütigen. Hatte sie eine Ahnung von dem, was sonst noch in dieser Nacht in dem Club vorgefallen war?
Er stand nahe bei ihr, als könnte er sie körperlich schützen. Sie sah ihn an, aber seine steifen Schultern definierten die Distanz zwischen ihnen, eine Trennung.
»Das ist das einzig Achtbare, was du tun kannst«, sagte Charles leise. Er sah Monk an. »Beschreiben Sie diesen Mann und wann und wo er war. Vielleicht sollte Imogen ihn persönlich treffen?«
»Nein«, erwiderte Monk hastig. »Wenn wir ihn hierher bringen, beeinträchtigen wir womöglich ihre Aussage. Die Staatsanwaltschaft wird sehr schnell darauf hinweisen, dass auch wir Freunde von Kristian sind und das Ganze arrangiert haben könnten. Es ist das Beste, wenn sie sich vor Gericht das erste Mal sehen. Pendreigh kann ihn aufrufen und dann Imogen bitten, seine Aussage zu bezeugen.«
Imogen wandte sich ihm zu. Sie zitterte, ihre Augen glänzten fiebrig. »Aber ich kann nicht helfen! Ich habe keine Ahnung, wer an jenem Abend noch auf der Straße war. Ich könnte den richtigen Mann gar nicht benennen. Ich glaube, ich würde die Dinge nur noch schlimmer
machen. Es … es tut mir Leid.«
Charles starrte sie an. »Bist du dir sicher? Erinnere dich. Versuch, dich wieder in die Situation zu versetzen. Wie du das … das Haus verlassen hast, auf die Straße …«
»Ich kann mich nicht erinnern«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir Leid. Ich habe einfach nach vorne geschaut. Ich hätte an jedem vorbeikommen können, ich habe nie- manden bemerkt!« Sie wandte sich ab und schenkte erst Monk und dann Hester ein entschuldigendes Lächeln, aber ihre Miene drückte aus, dass sie sich schlichtweg weigerte.
Monk setzte Hester in den Hansom, der sie nach Hause bringen sollte, während er einen anderen zur Lamb’s Conduit Street nahm, wo Runcorn wohnte. Es war nach Mitternacht, als er Runcorn durch lautes Hämmern an die Tür weckte. Wie erwartet, dauerte es mehrere Minuten, bevor Runcorn erschien, zerknittert und
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