Gefährliches Geheimnis
schlaftrunken. Sobald er Monk, dem das Haar vom Regen am Kopf klebte, im schaurigen Licht der Straßenlaternen erkannte, machte er die Tür weit auf und bat ihn herein.
»Und?«, fragte er, sobald sie in der kleinen Diele standen.
»Haben Sie in Wien etwas herausgefunden? Irgendetwas?«
»Ja.« Mit Runcorn in dieser engen, gewöhnlichen Diele zu stehen erinnerte Monk irgendwie an die verschiedenen Facetten der polizeilichen Ermittlungsarbeit, des Gesetzes und der Realitäten, die nichts damit zu tun hatten, ob man jemanden liebte oder brauchte. Runcorn ging voraus in die Küche, und Monk zog sich einen der Küchenstühle heraus und setzte sich.
Runcorn drehte das Gas auf und machte sich daran, den Rost des schwarzen Ofens zu rütteln, um die Asche zu entfernen und das Feuer wieder anzufachen. »Und?«, fragte er, dem Raum den Rücken zugewandt.
»Ich habe Niemann mitgebracht«, antwortete Monk. »Er
ist mehr als bereit, auszusagen, sowohl zu Gunsten von
Kristians gutem Charakter …«
Runcorn drehte sich zu Monk um und warf ihm einen wütenden Blick zu.
Monk rieb sich die Augen und atmete tief durch. Trotz der jahrelangen Rivalität und gegenseitigen Abneigung, trotz der kleinlichen Streitereien zwischen ihnen, hatten sie mehr gemeinsam, als er noch vor einem Monat gedacht hätte, und sie kannten einander zu gut, um sich mit Halb- wahrheiten herumzudrücken. Er sah zu Runcorn auf. Der Ofen fing an zu ziehen, und die Flammen loderten rot auf.
»Niemann sagt, er war kurz vor den Morden in der Swinton Street in der Nähe der Spielhalle und sah Allardyce dort herauskommen.« Natürlich wusste Runcorn, dass Allardyce dort gewesen war, von Hester. Er musste auch wissen, dass sie die Zeichnung gestohlen hatte, obwohl sie sie zurückgebracht hatte.
Runcorn starrte ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, nur in seinen Augen blitzte es einen Augenblick auf.
»Fahren Sie fort«, drängte er. Geistesabwesend schob er den Kessel auf die heißeste Stelle des Ofens. »An der Sache ist noch mehr dran, sonst würden Sie nicht aussehen wie ein verregnetes Wochenende in Margate. Vielleicht lügt Allardyce, vielleicht aber auch nicht. Ist Niemann Dr. Becks Freund oder Feind? War er Elissas Liebhaber?«
»Freund. Und nein, ich glaube nicht.«
Runcorn beugte sich über den Tisch. »Aber Sie wissen es nicht! Haben Sie Zeit, die halbe Nacht hier zu sitzen, während ich Ihnen aus der Nase ziehe, was noch an der Sache dran ist?«
Monk schaute zu ihm auf. Es war seltsam, wie vertraut er ihm war, jede Falte in seinem Gesicht, sein Tonfall. Sie kannten sich, seit sie junge Männer waren, seit über
zwanzig Jahren. Und doch gab es einen riesigen Bereich mit Gefühlen, Glauben und inneren Wahrheiten, den Monk erst jetzt erkannte. Vielleicht hatte ihm früher nie etwas daran gelegen?
»Es gibt sehr viele Ressentiments gegen Juden in Wien, in Österreich überhaupt«, sagte er langsam. »Sie wurden seit Generationen verfolgt. Ich nehme an, seit Jahr- hunderten wäre genauer.«
Runcorn wartete geduldig, den Blick unverwandt auf
Monks Gesicht gerichtet.
»Um zu überleben, um der Diskriminierung zu ent- kommen«, fuhr er fort, »auch der Verfolgung, verleugneten einige Juden ihr Volk und ihren Glauben und nahmen deutsche Namen an. Sie wurden sogar Katholiken.«
»Das muss etwas bedeuten, sonst würden Sie es mir nicht erzählen«, bemerkte Runcorn.
»Ja. Das Teewasser kocht.«
»Der Tee kann warten. Was ist mit den Leuten, die ihren Namen ändern. Was hat das mit dem Mord an Elissa Beck zu tun?«
»Ich weiß nicht. Aber Kristians Familie war eine der Familien, die das taten. Elissa wusste es, aber sie hat es Kristian nie erzählt. Zumindest damals nicht. Sie hat sich sogar besondere Mühe gegeben, um ihn zu schützen, weil sie wusste, wenn er geschnappt wurde und bekannt wurde, dass er in Wirklichkeit Jude war, wäre es für ihn noch schlimmer.« Warum erzählte er immer noch weniger als die Hälfte der Wahrheit? Um Kristian zu schützen? Oder Pendreigh?
Runcorns Miene verhärtete sich. In seinen Augen lag Mitleid, vielleicht sogar so etwas wie Verständnis. Er wandte sich ab, verbarg es vor Monk und goss Tee auf, klapperte mit der Teekanne herum und verstreute ein paar
Blätter auf dem Tisch. Als er fertig war und den Tee ziehen ließ, war das Schweigen im Raum schwer wie Blei. Schließlich schenkte er Tee ein, gab Milch dazu und stellte zwei Tassen auf den Tisch, von denen er eine zu Monk hinüberschob. Er musste nicht
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