Gefährliches Geheimnis
keinen Unterschied zwischen Alter oder Vermögen, Mann oder Frau. Bestimmte Charaktere konnten, sobald sie den Nervenkitzel des Gewinnens einmal gespürt hatten, nicht mehr davon lassen, selbst wenn ein Teil von ihnen sich deutlich der Zerstörung bewusst war, die dem folgte. Sie sahen ihre Gewinne als das, was sie waren, ihre Verluste aber schätzten sie gering ein, und es gab immer die Hoffnung, dass die nächste Karte alles wieder gutmachen würde.
»Ich verstehe es nicht!«, sagte Runcorn verzweifelt und starrte auf seine durchweichten Stiefel, mit denen er in die Gosse treten musste, um an einer Gruppe Frauen vorbeizukommen, die sich – blind für die Passanten – auf dem Trottoir unterhalten hatten. »Es ist wie eine Art Wahnsinn! Warum machen Menschen so etwas?«
Monk konnte es verstehen, zumindest teilweise – genug, um darüber zu erschrecken, wie leicht er selbst einer von ihnen hätte werden können, wenn sein Lebensweg anders verlaufen wäre.
»Das Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen«, sagte er, und als er Abscheu und Unverständnis in Runcorns Miene sah, wünschte er sich, er hätte den Mund gehalten.
»Geschmeiß!«, zischte Runcorn wütend, zerrte sich einen
Stiefel vom Fuß und massierte seine kalten, nassen Zehen. Monk riss den Kopf hoch, doch sofort wurde ihm klar,
dass Runcorn die Schuldeneintreiber meinte, nicht die
Spieler.
»Wünschte, wir könnten ein paar von ihnen dingfest machen und genügend Beweismaterial zusammenbe- kommen!«, fuhr Runcorn fort. »Ich würde sie zu gerne in der Tretmühle in Coldbath Fields sehen.« Er sprach von dem schlimmsten Gefängnis in London und der dort üblichen Bestrafung, bei der man jemanden in eine drehende Vorrichtung sperrte, wo man, um aufrecht zu bleiben, ständig einen Fuß vor den anderen auf eine Stufe setzen musste, die unter dem Gewicht nachgab und das Rad drehte. Man konnte gezwungen werden, stundenlang so zu gehen, bis jeder Muskel schmerzte und jede Bewegung wehtat. Diese Folter diente keinem anderen Zweck, als den Geist zu brechen.
»Ja«, sagte Monk mit Überzeugung, »ich auch. Aber wir haben nicht den Hauch eines Beweises gefunden, um andeuten zu können, dass irgendein Schuldeneintreiber hinter ihr her war. Wir konnten ja nicht mal jemanden finden, der zugegeben hat, dass sie ihm was schuldete. Sie hat das Geld von irgendwo anders herbekommen … oder von jemand anderem.«
Runcorn schaute auf. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie denen glauben?«, fragte er.
Darüber brauchte Monk nicht nachzudenken, denn das hatte er bereits getan. »Ja. Nicht unbedingt dem, was sie sagen, aber sie haben weder Angst, noch sind sie wütend. Keine Gefühle. Wenn überhaupt, dann sind sie enttäuscht, eine gute Kundin zu verlieren. Sie dachten, aus ihr wäre noch mehr rauszuholen.«
Runcorn schürzte die Lippen und zog erst einen und dann einen zweiten dicken Wollsocken aus der Schreib- tischschublade hervor. »Das habe ich auch gedacht. Wie wär’s mit Sarah Mackeson?«
Monk versuchte, Runcorns Miene zu deuten – den Zweifel, die Hoffnung und den Zorn darin –, bis Runcorn sich abwandte, um seine Socken anzuziehen.
»Wir haben nichts gefunden, was darauf hindeuten könnte, dass jemand sich so viel aus ihr gemacht hat, dass er sie umbrachte«, sagte Monk unglücklich. Es wäre ihm lieber gewesen, es wäre um Leidenschaft gegangen, Neid, Angst – alles wäre besser gewesen als Gleichgültigkeit. Am meisten Gefühl schien sie in Allardyce geweckt zu haben, weil sie schön zu malen war. Der einzige andere Mensch, der sich etwas aus ihr gemacht hatte, war Mrs. Clark.
»Ich wünschte, wir wüssten, wer zuerst umgebracht wur- de!«, sagte Runcorn und knallte die Schublade zu. »Aber der Arzt kann uns überhaupt keinen Anhaltspunkt geben.«
Monk saß auf der Tischkante, die Hände in den Taschen. Er überlegte, welche Beweise es dafür geben konnte, welche Frau zuerst getötet worden war. Es hatte keinen Sinn, noch einmal zu dem Arzt zu gehen. Alles, was er sagen konnte, war, dass sie auf die gleiche Art und Weise gestorben waren, und der gesunde Menschenverstand sagte einem, dass sie vom gleichen Täter getötet worden waren. Hier halfen nur Tatsachen weiter.
Runcorn beobachtete ihn. »Wir haben den Ohrring nicht gefunden«, sagte er, als folgte er Monks Gedanken. Beunruhigend, wie scharfsichtig er war.
»Also, wenn er sich in seiner Kleidung verhakt hat, dann hat derjenige ihn bestimmt weggeworfen«, erwiderte Monk. »Er lag nicht auf dem
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