Gefährliches Geheimnis
Er wünschte sich leiden- schaftlich, er könnte etwas anderes sagen. Sie sah so verängstigt und verletzlich aus, bereit, den Kampf aufzu- nehmen, egal, wie die Chancen standen, und schrecklich verletzt zu werden. Und doch hätte er sie nicht so innig lieben können, wäre sie bereit gewesen, nachzugeben, wäre sie klüger gewesen, realistischer und mehr in der Lage, über ihre Gefühle hinwegzugehen und sich gegen die Niederlage zu wappnen.
Sie war wütend, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Weil du glaubst, er könnte schuldig sein«, flüsterte sie.
»Er könnte es getan haben«, meinte er. »Jeder hat einen
Punkt, an dem er zusammenbricht, das weißt du so gut wie ich. Bei uns allen erreicht die Belastung einen Grad, wo wir sie nicht mehr ertragen und entweder zusammen- brechen und kapitulieren oder davonlaufen oder kämpfen. Manchmal verlieren wir das Gleichgewicht und tun etwas, was wir niemals für möglich gehalten hätten. Ich war schon an diesem Punkt. Du nicht?«
Hester lehnte sich an ihn, und ihre Stimme klang gedämpft, weil sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub.
»Doch …«
Sie brauchte einige Augenblicke, um sich zu fassen. Dann schniefte sie und schob ihn von sich weg. »Was sollen wir machen?« Ihre Stimme, ihr Gesicht, ihre Körperhaltung zeigten, dass sie leidenschaftlich dafür eintrat, etwas zu tun.
»Ich weiß nicht.« Er gab es nicht gerne zu, aber er hatte bereits alle ihm bekannten Möglichkeiten ausgeschöpft, sonst hätte er sich gegen Runcorn gestellt und die Verhaftung zumindest um einen Tag aufgeschoben.
»Also, wenn es nicht Kristian war, dann muss es jemand anders gewesen sein!«, protestierte sie voller Ver- zweiflung. »Wir müssen herausfinden, wer es war. Ich habe bisher noch nichts getan. Ich weiß nicht, wie ich so dumm sein konnte! So selbstgefällig! Ich habe es als selbstverständlich betrachtet, weil ich« – sie wandte den Blick ab – »weil ich mich geweigert habe, zu glauben, Kristian könnte es gewesen sein. Wo kann ich anfangen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Monk noch einmal. »Runcorn hat Leute losgeschickt, die überprüfen, ob Max Niemann öfter nach London kam, als wir wissen, aber wir kennen keinen Grund, warum er sie umgebracht haben sollte.«
»Vielleicht war sie seine Geliebte« – das Wort kam ihr nur mit Mühe über die Lippen – »und sie haben sich
gestritten? Du hast gesagt, Allardyce habe behauptet, sie hätte Niemann dort getroffen! Das ergibt Sinn … oder?« Es lag keine Überzeugung in ihrer Stimme. Vielleicht erinnerte sie sich daran, wie Niemann auf der Beerdigung nach Kristians Hand gegriffen hatte; das Gefühl zwischen ihnen, das äußerst echt gewirkt hatte. Und doch schien es, als hätte einer die Frau umgebracht, die sie beide geliebt hatten und mit der sie eine heroische, unruhige Vergangenheit geteilt hatten. Wer von beiden log so ausgezeichnet, und welche Qualen litt er?
»Hester …« Monk atmete tief durch. »Natürlich könnte es jemand anders gewesen sein, aber Kristian ist verhaftet worden. Er kommt vor Gericht. Er braucht eine bessere Verteidigung als deinen Glauben, dass es Niemann oder irgendein Unbekannter gewesen sein könnte.«
»Hast du es Callandra schon gesagt?« Sie zitterte.
»Nein.«
»Dann gehe ich jetzt wohl besser zu ihr.« Sie trat einen
Schritt zurück.
»Heute Abend noch?« Er war verblüfft.
»Ja, morgen früh trifft es sie nicht weniger hart.«
»Ich komme mit dir.« Er bückte sich und griff wieder nach seinen Stiefeln.
Callandra weigerte sich, es zu glauben. Sie hatte sie im Wohnzimmer empfangen, wo die Gaslampen brannten und mit einem strahlenden Leuchten die dunklen Wände über- zogen, auf denen die Reflexionen der Flammen aus dem Kamin rot und gelb tanzten. Plötzlich verschwand die ver- traute Behaglichkeit, und selbst die Schönheit der Gemälde schien nicht mehr zu sein als eine Sinnestäuschung.
»Nein«, sagte sie, ohne einen der beiden anzusehen, mit
kreidebleichem Gesicht und starrem Körper. »Er war vielleicht versucht, seine Frau umzubringen, aber er hätte nie im Leben auch das Modell umgebracht. Es gibt eine andere Lösung. Wir müssen sie nur finden.«
»Ich werde weitersuchen«, versprach Monk. Er konnte es ihr nicht abschlagen, aber er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte, und glaubte auch nicht an einen Erfolg.
»Aber wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir
Kristian verteidigen.«
»Oliver?«, sagte sie sofort. »Ich bezahle ihn.« Sie
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