Gefaehrliches Schweigen
Die Gruppe stand in einiger Entfernung, daher konnte ich nicht hören, worüber sie sprachen. Die Pausenaufsicht ging quasselnd paarweise um den Hof, offensichtlich zufrieden, weil alles so schön friedlich war.
Die Lehrer sahen, was sie sehen wollten.
Ich dagegen entdeckte Dinge, die ich früher nicht bemerkt hätte. Unruhe schärft die Sinne. Es war klar wie Kloßbrühe, wie Opa zu sagen pflegt, dass der Junge verängstigt war. Und als die Meute ihn allein auf dem Schulhof zurückließ, sah er immer noch total verstört aus.
Aber kaum hatte ich einen Schritt in seine Richtung gewagt, war er schon davongeschossen.
„Och Mann!“, stöhnte ich enttäuscht. „Ich wollte doch mit ihm reden.“
„Du darfst eben nicht so viel lächeln“, sagte Jo. „Da kriegen die Leute Angst.“
Ich fand ihren Scherz nicht komisch.
Auch in der Mittagspause behielt ich Jimmy und Stoffe im Auge. Diesmal knöpften sie sich ein Mädchen aus Linus’ Klasse vor. Wieder spielte sich das Gleiche ab: Lange nachdem sie allein gelassen worden war, stand sie da und starrte mit angsterfüllten Augen vor sich hin.
Was ging da vor?
„Du glotzt zu auffällig rüber“, bemerkte Jo nervös. „Komm!“
Widerstrebend zog ich mich ein paar Meter zurück. Wir befanden uns ohnehin zu weit weg, um hören zu können, was gesagt wurde.
„Hast du Lust, am Samstag bei mir einen Film anzugucken?“, fragte Jo.
„Mhm“, sagte ich, während ich die Jungs beobachtete. „Hast du kein Turnier?“
„In den nächsten Wochen nicht. Bitte-e!“
Ich sah sie verwundert an.
„Wenn du willst, von mir aus.“
„Starr nicht so penetrant rüber, meine ich!“
Sie zerrte an meinem Ärmel und zwang mich, in eine andere Richtung zu schauen.
In der letzten Pause des Tages entdeckte ich das Mädchen aus Linus’ Klasse, mit der Jimmy und Stoffe gesprochen hatten. Sie stand nur ein paar Meter von uns entfernt allein da. Ich rannte zu ihr hin, bevor es ihr gelang wegzulaufen.
„Was haben Jimmy und Stoffe zu dir gesagt?“, fragte ich.
Sie sah sich erschrocken um, als wollte sie nicht mit mir zusammen gesehen werden.
„Das wirst du bald genug erfahren!“, sagte sie.
Bevor ich mehr fragen konnte, war sie schon abgehauen.
Unser Sportlehrer stand etwas weiter weg auf dem Schulhof und sprach mit ein paar kleineren Jungs, was ihn aber nicht daran hinderte, die Flucht des Mädchens zu beobachten. Er runzelte die Stirn und schüttelte warnend den Kopf. Als ob ich etwas angestellt hätte. Schon wieder.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Jo.
„Ich weiß nicht so recht …“
Mir war nicht klar, ob das eine Drohung gewesen war. Es hatte unweigerlich so geklungen. Ich erwähnte es lieber nicht, um Jo nicht zu ängstigen. Es genügte, dass ich selbst dadurch verunsichert war.
Irgendetwas Bedrohliches spielte sich hier ab, ohne deutlich greifbar zu sein.
„Hast du mit Simon gesprochen?“, fragte ich Linus, als wir nach der Schule unsere Hunde ausführten.
„Hab’s versucht, aber er hat mich bloß angeglotzt.“
Ich seufzte.
„Dann werd ich es noch einmal versuchen müssen.“
„Warum kannst du die andern nicht in Ruhe lassen? Häkeln oder Briefmarken sammeln wär doch viel netter!“
Ich lachte, aber er war todernst.
„Ehrlich. Simon ist eh schon stinksauer auf dich.“
„Dann komm doch mit! Als Zeuge, dass ich ihn nicht vermöble.“
„Du bist unglaublich!“
„Find ich auch“, sagte ich lachend.
„Du suchst Probleme und willst mich mit reinziehen.“
„Ja“, gab ich vergnügt zu. „Morgen habt ihr doch auch um drei Uhr aus?“
„Morgen kann ich nicht.“
Ich wartete darauf, dass er mir erzählte, was er nach der Schule vorhatte, doch das tat er nicht.
„Und heute Abend?“, fragte ich.
„Nein, aber morgen nach dem Abendessen.“
Er klang so bestimmt, dass ich mich damit wohl zufriedengeben musste.
DIENSTAG
Am Dienstagmorgen erhielten wir einen Englischtest zurück.
Alexander war der Beste, wie immer. Aber ich kam als gute Nummer zwei.
Als unsere Lehrerin die Tests austeilte, beugte sie sich über Natalie und sagte etwas zu ihr. Natalie schüttelte düster den Kopf und starrte auf die Bank. Offenbar war das Ergebnis nicht so gut wie sonst ausgefallen.
Aber ich war natürlich total happy. Allerdings konnte ich mein Glück nicht besonders lange genießen.
In der Mittagspause passierte nämlich etwas.
Ich sah Linus mit einem Mädchen reden.
Sie standen nicht mit den anderen aus der Klasse in einer Gruppe, sondern
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