Gefaehrliches Schweigen
Warum sind Markos Eltern nicht zur Polizei gegangen, als Anna runtergestoßen wurde?“
„Was weißt du denn? Vielleicht haben sie ja mit der Polizei gesprochen, aber wenn Marko schweigt und Anna nichts gesehen hat, kann die Polizei nicht viel tun.“
Ich seufzte.
„Wir müssen trotzdem einen Versuch starten.“
„Sonst?“
„Sonst bringe ich meine Tonaufnahme von Natalie zur Polizei.“
Linus schüttelte den Kopf und seufzte schwer.
„An deiner Stelle würde ich mich wirklich lieber raushalten.“
„Du weißt, dass ich das nicht kann“, sagte ich und ging.
Als ich nach Hause kam, wurde ich von Parfümduft empfangen und gleichzeitig auch von Wuff, die ihren großen Teddy anschleppte. Ich hätte den Duft nach einem herzhaften Eintopf vorgezogen und war enttäuscht. Wollten Mama und Papa ausgehen?
Mama kam die Treppe herabgeschwebt. Sie trug ihre eleganteste Hose und dazu ein glitzerndes Top. Ihr blondes Haar hing ihr leicht gelockt offen über die Schultern.
„Ich wollte schon anrufen. Wo bist du denn gewesen?“
„Bei einem Mädchen aus meiner Klasse, eine Gemeinschaftsarbeit machen. Wohin wollt ihr?“
„Wir sind bei Papas neuem Chef zum Abendessen eingeladen.“
Papa tauchte hinter ihr auf, im dunklen Anzug mit weißem Hemd.
Sie waren ein schönes Paar.
„Chic seht ihr aus“, bemerkte ich traurig.
Ich fühlte mich plötzlich allein und verlassen mit all meinen Sorgen. Ich wollte auch auf ein Fest gehen, mich amüsieren, lachen und alles Schreckliche vergessen.
„Danke“, sagte Mama lächelnd.
Papa half ihr in den Mantel. Sie strahlte ihn an.
„Im Kühlschrank steht was zu essen“, sagte Mama. „Wir kommen …“
„… wann ihr kommt“, beendete ich für sie den Satz.
Mama lachte und tanzte zur Tür hinaus, mit Papa auf den Fersen.
Ihr Parfümduft hing, noch lange nachdem sie verschwunden waren, in der Luft.
Ich holte eine Portion Spaghetti mit Fleischsoße aus dem Tiefkühlfach, wärmte den Behälter in der Mikrowelle und aß vor dem Fernseher. Ich zappte zwischen den Sendern herum und blieb bei witzigen Heimvideos hängen, Katzen und Hunde, die sich irgendwie blamierten. Sie waren rührend.
Meine Gedanken glitten zu Natalies Katze hinüber. Die war zu Tode gequält worden.
Wer konnte so etwas tun?
Ich ertrug es nicht, daran zu denken.
Genau im selben Moment, als ich nach dem Handy tastete, um Linus anzurufen, rief er an und schlug einen Spaziergang mit den Hunden vor.
Ich war überglücklich. Vielleicht hat er doch ein klein bisschen was für mich übrig, dachte ich.
Ich trug etwas Mascara auf, zog einen Lidstrich mit dem Kajalstift und beendete das Ganze mit einem Lipgloss, der nach Himbeeren schmeckte.
Doch das würde Linus wohl kaum feststellen.
Als wir uns auf der Straße trafen, begrüßten Wuff und Glöckchen einander hocherfreut. Zu meiner Enttäuschung sah Linus dagegen keineswegs besonders froh aus. Und er sagte auch kein Wort. Aber er muss trotzdem gern mit mir zusammen sein, dachte ich. Sonst hätte er doch nicht angerufen. Gute Freunde können sich anschweigen und dennoch die gegenseitige Gesellschaft genießen.
Und das tat ich.
Wir hatten zwanzig, dreißig Meter von unserer üblichen Runde zurückgelegt, als Linus plötzlich hörbar Luft holte.
Vor uns tauchte eine Gruppe Jungs aus einer Querstraße auf. Das konnte natürlich ein Zufall sein, aber ich bekam unmittelbar das Gefühl, dass sie dort gestanden und gewartet hatten. Vor allem, als ich sah, wer sie waren.
Jimmy, Stoffe und Elias. Begleitet wurden sie von drei jüngeren Schülern aus unserer Schule. Ich kannte sie dem Aussehen nach, wusste aber nicht, wie sie hießen.
Die Straßenlaterne beleuchtete sie von hinten und warf einen großen kompakten Schatten auf den Schnee.
Mein Herz begann in der Brust zu hämmern. Linus und ich warfen uns Blicke zu, ich ging jedoch eigensinnig weiter, Wuff kurz angeleint eng neben mir.
Das war meine Gegend, hier wohnte ich. Die Jungs dort waren die Fremden. Wenn jemand verschwinden sollte, dann sie.
Die Jungs kamen Seite an Seite auf uns zu ohne auch nur einen Zentimeter auszuweichen. Wir waren nur ein paar Meter voneinander entfernt, als Jimmy und Stoffe auf mich zustürzten. Sie griffen mich von links und rechts an und warfen mich zu Boden. Dabei glitt mir Wuffs Leine aus der Hand.
Als ich mich aufzurappeln versuchte, machte sich einer der jüngeren Typen über mich her und stieß mich wieder zu Boden.
Ich war außer mir vor Angst, vor allem weil
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