Gefaehrliches Verlangen
Funkstille einpendelt. Unsere Dorfverwaltung hat sich gegen die Aufstellung eines Telefonmasts entschieden, deshalb kann man lediglich mit dem Handy telefonieren, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung weht.
»Keith, hat Marc Ihnen genauer erklärt, was los ist?«, frage ich, als er vor dem Cottage anhält.
»Nein, ich weiß nur, dass er die Sicherheitsvorkehrungen verschärft hat. Ich habe massenhaft Nachrichten über geänderte Abläufe und neue Passwörter bekommen.«
Als ich aussteigen will, hält er mich zurück. »Moment, ich bringe Sie zur Tür. Neue Anweisung.«
»Okay.« Allmählich bekomme ich es mit der Angst zu tun, sowohl wegen der verschärften Sicherheitsmaßnahmen als auch, weil Marc sich nicht bei mir meldet. Wann immer wir voneinander getrennt sind, wächst meine Sehnsucht nach ihm mit jeder Minute, und die Vorstellung, ihn heute Nacht nicht bei mir zu haben, schmerzt. Ich muss ihn unbedingt anrufen.
Keith tritt um den Wagen herum und öffnet mir die Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich etwas Schwarzes im Vorgarten aufblitzen.
»Was war das?«
»Ein Wachmann«, antwortet Keith. »Sie behalten das Grundstück Ihres Vaters und die Zufahrtsstraßen im Auge. Ein Gutes haben diese Landhäuser ja im Gegensatz zu den Anwesen in London – sie sind leicht zu überwachen.«
Mit leicht zittrigen Knien steige ich aus der Limousine.
Keith schlägt die Tür hinter mir zu. »Ich bin sicher, es gibt keinen Anlass zur Besorgnis. Trotzdem wollen wir lieber auf Nummer sicher gehen.«
Ich nicke und folge dem Kiesweg zum Haus. Es ist stockdunkel. Erst jetzt wird mir bewusst, dass Dad keine Ahnung hat, dass ich schon heute Abend komme. In dem ganzen Chaos habe ich völlig vergessen, ihn anzurufen.
Leise klopfe ich an die Holztür und warte.
Stille.
»Alles in Ordnung?«, fragt Keith.
»Sieht ganz so aus, als wäre niemand zu Hause.«
»Vielleicht schlafen sie ja schon.«
»Eigentlich kann das nicht sein. Dad arbeitet als Taxifahrer und ist eine Nachteule. Normalerweise geht er nie vor drei oder vier Uhr morgens ins Bett. Er könnte bei der Arbeit sein, aber während der Woche ist er eigentlich nie so lange unterwegs.«
Ich klopfe noch einmal. Das Geräusch hallt laut in der nächtlichen Stille.
Ein Poltern dringt aus dem Haus, gefolgt von Sammys hohem Weinen.
»Oh.«
Die Tür öffnet sich einen Spalt, und Dads Gesicht erscheint, verschlafen und mit blutunterlaufenen Augen.
»Dad? Hast du schon geschlafen?«
»Oh. Hallo, Schatz, ich habe gar nicht mitbekommen, dass schon Heiligabend ist.«
Das ist eindeutig der Beweis, dass etwas nicht stimmt.
»Ist es auch nicht.« Ich werfe Keith einen Blick zu. »Ich bin einen Tag früher gekommen als geplant. Wurden meine Sachen noch nicht vorbeigebracht?«
Dad kratzt sich am Kopf. »Oh, doch, da kam etwas, aber ich dachte, es seien die Weihnachtsgeschenke.«
Er blinzelt. Scheinbar hat er Mühe, klar zu sehen.
»Hast du getrunken?«
Wieder blinzelt er. »Nur ein paar Biere.«
Ich wende mich Keith zu. »Danke fürs Fahren, aber ich glaube, ich komme zurecht, ehrlich.«
Keith mustert meinen Vater. »Sicher?«
»Ja. Sie können ganz unbesorgt zu Ihrer Familie zurückfahren.«
»Wenn Sie meinen …« Er zögert, dann nickt er knapp. »Na gut. Es sind überall Wachleute postiert. Und rufen Sie einfach an, falls Sie etwas brauchen, okay? Ich kann innerhalb einer Stunde hier sein.«
»Okay.« Keith kehrt zum Wagen zurück und steigt ein, während ich mich Dad zuwende. »Komm, lass uns reingehen, und dann erzählst du mir, was passiert ist.«
❧ 15
E s ist dunkel im Haus. Der silbrige Schein des Mondes lässt die Sofas noch schäbiger und durchgesessener aussehen als sonst. Der Gestank nach schalem Bier und alten Socken steigt mir in die Nase, und ich nehme etwas wahr, das ich seit vielen Jahren nicht mehr in diesem Haus gespürt habe – genauer gesagt, seit Mums Tod.
Traurigkeit.
Sammy weint immer noch, doch Dad scheint es nicht zu bemerken.
Mein Magen krampft sich zusammen, als ich durchs Haus gehe und um ein Haar über Bierflaschen und Kleidungsstücke stolpere.
»Was ist hier los, Dad?«
Sammys lautes Weinen schlägt in ein klägliches Wimmern um, dann ist er plötzlich still. Vermutlich ist er eingeschlafen.
Ich drehe mich um und blicke in Dads bleiches, zerfurchtes Gesicht. Sein Haar steht in sämtliche Richtungen ab, und seine Bewegungen sind ungelenk, als hätte er Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er verströmt eine
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