Gefaehrliches Verlangen
die Bierflaschen neben der Mülltonne aufzureihen, so wie damals, unmittelbar nach Mums Tod. »Die Zeit heilt alle Wunden.«
»Sie kommt bestimmt zurück. Ganz sicher. Sie braucht nur etwas Zeit, bis ihr aufgeht, dass sie einen Riesenfehler gemacht hat.« Er stützt den Kopf auf die Hände.
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. »Das hoffe ich auch, Dad.« Aber insgeheim habe ich meine Zweifel. Genoveva und Dad haben sich zwar schon häufig gestritten, aber verlassen hat sie ihn noch nie. Und wenn es auch noch einen anderen Mann in ihrem Leben gibt …
»Sammy vermisst sie schrecklich«, fährt Dad fort. »Allein deshalb kann sie nicht endgültig fort sein. Sie würde ihn nicht einfach zurücklassen.«
Offen gestanden weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll. Ich fand Genoveva schon immer etwas unterkühlt. Ich versuche stets, das Beste in den Menschen zu sehen, aber bei ihr fiel es mir manchmal schwer. Und nun, da Dad wie ein Häuflein Elend vor mir sitzt, erst recht.
Jede Geschichte hat ihre zwei Seiten, ermahne ich mich, aber ich kenne Genoveva, deshalb ist es durchaus möglich, dass es in diesem Fall nicht zutrifft.
»Komm, Dad, ich mache dir eine heiße Milch, und dann räume ich hier ein bisschen auf.«
»Nein.« Mühsam kommt Dad auf die Füße. »Du musst doch völlig erledigt sein. Immerhin bist du den ganzen Weg von London hergekommen. Wir kümmern uns morgen darum, gemeinsam. Jetzt geh ins Bett und schlaf dich aus. Und ich tue dasselbe.«
»Hört sich gut an«, sage ich, wohl wissend, dass ich mich morgen früh allein auf die Arbeit stürzen werde, da Dad mir beim Aufräumen eher im Weg herumgeht, als mir eine echte Hilfe zu sein. Und wenn ich ihn mir so ansehe, tut es ihm bestimmt gut, sich richtig auszuschlafen.
❧ 16
N achdem Dad nach oben gegangen ist, schleiche ich mich die Treppe hinauf und werfe einen Blick in Sammys Zimmer. Er schlummert, beide Ärmchen über dem Kopf ausgestreckt, tief und fest in seinem Bettchen. Früher war es mein Zimmer, und es rührt mich, dass Sammy inzwischen hier schläft.
Die steile Dachschräge, unter der ein Erwachsener nur mit Mühe stehen kann, macht den Raum zum perfekten Kinderzimmer.
Natürlich hat Genoveva den Raum komplett umgestaltet, sodass nichts mehr an mich erinnert. Die kleinen Feen, die ich um den Kamin herum an die Wand gemalt habe, wurden weggeschrubbt, meine Lavendelpflanzen auf dem Fensterbrett in den Müll geworfen, und all die Möbel, die Dad und ich auf Flohmärkten erstanden hatten, sind längst weißem Einheitsmobiliar gewichen.
Ich sehe Sammy ein paar Minuten beim Schlafen zu. Beim Hinausgehen knarzt eine Diele. Prompt schlägt er die Augen auf.
»Mama«, sagt er, schlagartig hellwach.
Ich trete an sein Bettchen. »Alles gut, Sammy«, flüstere ich, während mich unvermittelt die Wut auf Genoveva packt. »Keine Angst, ich kümmere mich um dich, solange Mami weg ist.« Ich massiere ihm den Rücken, bis seine Lider schwer werden, und singe ihm ein Schlaflied vor, das meine Mum immer für mich gesungen hat – Somewhere Over the Rainbow.
Bald ist Sammy wieder eingeschlafen, und ich gehe nach unten.
Im Wohnzimmer rufe ich Marc an.
Er hebt beim ersten Läuten ab.
»Sophia.«
»Marc. Ich … ist alles in Ordnung? Du hast dich nicht gemeldet.«
»Ich habe es wieder und wieder probiert«, bellt er. »Wieso hast du dein Telefon ausgeschaltet?«
»Das habe ich gar nicht.«
»Ich habe mindestens zwanzigmal angerufen, aber es hieß immer nur, der Teilnehmer sei vorübergehend nicht erreichbar. Ich war halb verrückt vor Sorge und bin sogar ins Theater gefahren, aber meine Wachleute sagten, du wärst weggegangen. Mit Leo.«
»Wir waren etwas essen. Ich war maximal eine Stunde weg.«
»Wären meine Leute nicht … Sophia, ich kann es nicht leiden, wenn ich dich nicht jederzeit erreichen kann.«
Plötzlich fällt der Groschen. »Moment mal, mein Telefon lag in Leos Garderobe, im hinteren Teil des Gebäudes, wo es keinen Handyempfang gibt. Vermutlich gilt das auch für eingehende Anrufe.«
»Leos Garderobe?«, knurrt Marc.
»Er hat mein Telefon konfisziert, damit ich mich konzentriere, weil ich sonst den ganzen Tag nur aufs Display geschielt hätte, ob du angerufen hast.«
»Er hat dir dein Telefon weggenommen?« Nun klingt er wirklich wütend.
»Na ja … ganz so war es nicht. Er hat es nicht gegen meinen Willen getan, und er hatte recht damit. Es hätte mich tatsächlich nur abgelenkt.«
Marcs Atemzüge dringen durch
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