Gefaehrten der Finsternis
und sie wissen immer sehr viel. Noch Fragen?«
Auf seine Zusammenfassung folgte wieder Schweigen, doch nicht etwa, weil den vier Jugendlichen schon alles klar war, sondern weil es ihnen angesichts des langen Weges und der zahlreichen Gefahren die Sprache verschlagen hatte. Als sie im Sitzungssaal vorgeschlagen hatten, sich anstelle von Vandriyan auf den Weg zu machen, hatte keiner von ihnen wirklich begriffen, worauf sie sich da einließen. Nun war es, als ob man einen Schleier vor ihren Augen weggezogen hätte und sie sich zum ersten Mal bewusst wurden, was tatsächlich vor ihnen lag: ein schier endloser Weg, ein ständiges Risiko, in Hinterhalte zu geraten, und immer weniger Möglichkeiten, um Unterstützung zu bitten.
»Gut«, sagte Vandriyan schließlich lapidar. »Wenn euch der Weg so weit klar ist, sind wir jetzt fertig.Von heute an habt ihr noch drei Tage, um eure Vorbereitungen abzuschließen. Nutzt sie gut.«
»Ich verstehe das nicht.« Drymn fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare. »Das ist völliger Irrsinn.Wer sind wir eigentlich, dass wir uns auf so etwas einlassen?«
Es war erschreckend schnell Abend geworden, sie hatten überhaupt nicht mitbekommen, wie die Stunden verrannen. Nachdem die Feldherren sie verabschiedet hatten und die vier die Bibliothek verlassen hatten, waren sie von einem zutiefst unangenehmen Gefühl befallen worden, das nicht mehr von ihnen weichen wollte. Der Sonnenuntergang vor ihnen tauchte die Weiße Hauptstadt in sein Rot und die golden und orangefarben lodernden Flammen des Himmels spiegelten sich im friedlichen dahinfließenden Silberstrom. Die Stille, die über dem Park der Weißen Residenz lag, war ganz anders als die ehrfürchtige Stimmung im großen Saal der Bibliothek heute Morgen. Nun herrschte eine Stille, die aus dem Zusammenspiel kleiner Geräusche entstand: dem sanften Plätschern des Flusses unter der Brücke, dem leisen Raunen des Windes, der die Blätter an
den Bäumen erzittern ließ, dem fernen traurigen Ruf der Lerche.
Wie so oft in den vergangenen Jahren lagen die vier Freunde im Gras des Parks und schauten dem prächtigen Schauspiel der Farben am Himmel zu, mit dem der rötliche Sonnenball seinen triumphalen Abgang nahm. Und doch war es dieses Mal anderes als sonst. Auch das Schweigen zwischen ihnen war nicht mehr dasselbe, denn es entstand nicht aus einer Harmonie, die Worte überflüssig machte, sondern aus Ungesagtem, aus nicht ausgesprochenen Sorgen, die auf ihnen lasteten und ihre Zungen lähmten. Alle empfanden die gleiche Angst, doch keinem der Freunde gelang es, die Befürchtungen in Worte zu fassen. Ihre Lippen waren wie durch einen Bann verschlossen und der war schwer zu durchbrechen. Die drei Tage, die ihnen noch blieben, ehe sie sich ihrem Schicksal stellen sollten, waren so schrecklich wenig Zeit.Aber mehr Zeit blieb ihnen nicht, um über das zu reden, was sie getan hatten und was nun vor ihnen lag.
Sie hatten einen folgenschweren Schritt getan, von dem es kein Zurück mehr gab, gleichgültig, was auf ihrer Reise geschehen und was ihr Schicksal sein würde. Ob es nun Tod oder Leben war, Sieg oder Niederlage, was da draußen außerhalb der Grenzen des Reiches auf sie wartete, nichts hätte ihre Entscheidung auch nur um einen Deut ändern können. Das lag nicht an den tröstenden Worten, die Hauptmann Vandriyan für sie gefunden hatte, oder am Segen des Sire oder dem unerwarteten Vertrauen, das der Hohe Rat in sie setzte. Das Motiv dafür ging im Grunde sogar über die persönlichen Beweggründe jedes einzelnen von ihnen hinaus, über Lyannens Liebe für Eileen, ja sogar über die Notwendigkeit,Vandriyan zu beschützen, damit die Ewigen ihren besten General behalten konnten. Sie hatten es schlicht und ergreifend getan, weil irgendjemand es tun musste. Lyannen wusste, wenn er noch einmal im Sitzungssaal stehen würde, würde er wieder genau so handeln, dieselben Worte finden,
und nicht einmal jetzt, da er die Gefahren kannte, die sie alle erwarteten, bereute er seinen Entschluss. Und er wusste, dass die anderen ebenso empfanden, wusste, dass auch sie aus dem Bauch heraus gehandelt hatten, mit derselben irrationalen, unbeirrbaren Entschlossenheit. Sonst wären sie jetzt nicht bei ihm, trotz all der Sorgen und Ängste, lägen nicht dort im Gras, um mit ihm gemeinsam der untergehenden Sonne zuzusehen, während in der großen Sanduhr der Zeit mit jedem einzelnen verrinnenden Sandkorn der Tag ihres Aufbruchs näher rückte.
Lyannen
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