Gefaehrten der Finsternis
erzählen, die sehr viel mit dir zu tun hat. Eine Geschichte, die vor dreihundert Jahren begann.«
»Vor dreihundert Jahren. Da wurde ich geboren«, sagte Lyannen.
»Genau.« Ventel nickte. »Vor dreihundert Jahren brachte unsere Mutter ihren jüngsten Sohn zur Welt. Nach ihm sollte sie keine Kinder mehr bekommen. Es war der letzte Sohn, der dem Haus hätte Ehre machen können.«
»Doch so war es nicht«, flüsterte Lyannen.
Ventel schüttelte den Kopf. »Nein, wenigstens dem Anschein nach. Doch das war nicht die Schuld des Jungen. Er war klug, mutig und treu, besser als viele seiner Altersgenossen. Aber er sah aus wie ein Sterblicher, weil seine Mutter keine Ewige war. Und aus diesem Grund sahen viele nicht, welche Fähigkeiten in ihm schlummerten …«
»Ich besitze keine Fähigkeiten«, unterbrach ihn Lyannen.
»Natürlich besitzt du die, und zwar ganz schön viele davon«, erwiderte Ventel. »Nur bist du nicht davon überzeugt. Wie dem auch sei, weiter mit unserer Geschichte. Dieser Junge wurde wegen seines Aussehens immer eine Spur geringer geachtet als jeder andere. Trotz allem blieb er der Liebling seines Vaters und auch seine Brüder liebten ihn wie den Besten unter ihnen. Es war eine Zeit des Friedens, und alle hatten eine Unmenge Arbeiten zu bewältigen, und weil unsere Eltern und unsere Geschwister so beschäftigt waren, blieb nur ich, um auf dich aufzupassen. Ich war damals schon neunhundert Jahre alt, also ein gestandener Mann, aber ich schloss dich sehr ins Herz. Ich erzählte dir Geschichten und du hörtest mir gern zu. Doch tief im Innern machte ich mir Sorgen um dich. Genauso wie Vater. Weil du anders warst. Und schließlich brachte Vater dich zum Orakel.«
»Das Orakel...«, wiederholte Lyannen.
»Genau. Die Priesterin hat dich lange angesehen und dann gesagt: ›Dieser kleine Junge besitzt ein reines Herz, viel reiner als das der Anführer seines Volkes. Und nur ein reines Herz wird durch seine mutige Tat dieses Volk retten.‹ Als Vater dich zurückbrachte,
trugst du diesen Stern am Hals und ich begriff, dass in deinem Schicksal etwas Großes verborgen lag. Und so ist es auch: Dreihundert Jahre nach seiner Geburt ist dieser kleine Junge kein Geächteter mehr, sondern ein rebellischer Held.«
»Ein Held«, wiederholte Lyannen flüsternd, als würde er den süßen Klang dieser Worte genießen. Kein Zurückgestoßener, kein Verachteter, sondern ein Held war er? »Und ist das das Ende deiner Geschichte?«, fragte er.
Ventel sah ihn an. »Nein, das ist nicht ihr Ende«, antwortete er dann. »Es ist ihr Anfang. Und du bist derjenige, der sie schreibt.«
Der Nebel, der die Unbekannten Länder einhüllte, schien sich am Morgen ein wenig gelichtet zu haben. Einem schüchternen Sonnenstrahl gelang es, durch die Schwaden zu dringen und sich in einem kleinen Bach zu spiegeln, der schmal, aber tief zwischen den vertrockneten, in der Einöde aufragenden Bäumen hindurchfloss. Der Einsame saß am Ufer, hatte sich gerade gewaschen und war nun dabei, die Trinkflaschen zu füllen. Das Bachwasser sah trüb und milchig aus, aber es war trinkbar und genau das, was sie jetzt dringend brauchten. Der Einsame befestigte eine Trinkflasche an seinem Gürtel und steckte die andere in seinen Reisesack, dann wandte er den Blick wohlgefällig nach Osten. Sie hatten schon ein gutes Stück Weg zurückgelegt und konnten damit zufrieden sein. Doch jetzt mussten sie eine Entscheidung treffen. Und zwar so schnell wie möglich.
Mit einem Klatschen zog Slyman sich aus dem Wasser heraus. Er hatte tropfnasse Haare und wickelte sich ein fadenscheiniges Handtuch um die Hüften. Der Einsame sah ihm zu, wie er das andere Handtuch von einem Baum nahm und sich kräftig die hellblonden Haare trockenrubbelte. Ja, er ist wirklich ein gut aussehender junger Mann geworden, dachte der Einsame. Gut aussehend und edelmütig. Slyman war groß und feingliedrig, hatte einen gut gebauten, flinken Körper, und seine weißblond schimmernden
Haare waren hübsch strubbelig. So langsam begann er, wie ein erwachsener Mann auszusehen. Ein Vater hätte stolz sein können auf diesen Sohn. Doch Slyman hatte nur den Einsamen, sonst niemanden. Und der Einsame war nicht sein Vater, obwohl er sich das in diesem Augenblick gewünscht hätte. Nachdem er die Söhne seiner einzigen geliebten Ehefrau verloren hatte, hatte er nie wieder Kinder gehabt. Aus Angst, er könne sie wieder verlieren, hatte er sich nie mehr eine Ehefrau oder Kinder gewünscht. Er
Weitere Kostenlose Bücher