Gefaehrtin Der Daemonen
verloren - mit meiner Mutter. »Wie kann das sein? Wie kann man die Erinnerungen einer Person in einem Stein speichern?«
»Gedanken sind Energie«, erwiderte Sucher, als wäre es das Einfachste von der Welt. »Außerdem ist das hier kein Stein. Es ist ein Bruchstück des Labyrinths.«
Ausdruckslos starrte ich ihn an. Er hob eine Braue. »Physik, Jägerin. Quantenmechanik. Multiple-Welten-Theorie. Nur ist das keine bloße Theorie, und das Labyrinth ist keine Hecke. Es ist ein Ort im Dazwischen , außerhalb von Zeit und Raum. Eine Kreuzung, die alle Welten und alle Dimensionen miteinander verbindet.« Seine Augen verdunkelten sich. »Dir ist doch klar«, fuhr er spöttisch fort, »dass Alter Wolf und seinesgleichen nach dem Krieg den Gefängnisschleier gegen die Dämonen geschaffen haben? Die Realität zu falten ist ihre Spezialität. Und genau das ist das Labyrinth.«
Forschend betrachtete ich sein Gesicht, fragte mich, ob er mich anlog. »Das kann nicht real sein.«
Er lehnte sich zurück und lächelte bitter. »Und wie real ist bitte eine Frau, die von Kopf bis Fuß von lebenden Tätowierungen bedeckt ist, die sich von ihrem Körper schälen, wenn die Sonne untergeht? Wie real ist eine Kreatur mit Klingen statt Zehen, die tanzt, wenn sie tötet? Oder alte Männer, die die menschliche Haut wie einen bequemen Mantel tragen?« Er verzog die Lippen. »Du lebst in einer Welt der Wunder, Jägerin, aber du nimmst sie nicht wahr. Dein Leben ist genauso klein wie dieser Samenring.«
»Tu das nicht«, sagte ich leise. »Meine Mutter ist da drin. Mach es nicht schlecht.«
Er sah weg. Seine Kiefer mahlten. Hinter ihm zuckten Bilder von Verheerung und Zerstörung über den Bildschirm: Blaulichter, weinende Kinder, ausgemergelte, schwitzende Gesichter mit entsetzten Mienen. Der Südosten des Irans war bereits vor einigen Jahren von einem Erdbeben erschüttert worden. Damals waren fünfzehntausend Menschen gestorben, vielleicht sogar
mehr. Selbst jetzt und hier, während alles um mich herum im Chaos versank, konnte ich das nicht ignorieren.
»Du hast gesagt, das da wäre meine Schuld.« Ich riss den Blick vom Bildschirm los und richtete ihn auf Sucher. »Was hast du damit gemeint?«
»Das würdest du nicht verstehen.« Er stand auf und deutete auf den Samenring. »Hüte ihn mit deinem Leben, Jägerin. Nicht nur wegen deiner Mutter, sondern auch wegen des Steins selbst. Stücke des Labyrinths sind Fragmente des Möglichen. Und es gibt nichts Gefährlicheres als ein Möglicherweise.
Ich hob den Stein auf. Er war warm und pulsierte. Ich drückte ihn an mein Herz und dachte dabei an meine Mutter, wollte mehr von ihr sehen. Ich sehnte mich voller Verzweiflung danach.
Nichts geschah. Sucher kehrte mir den Rücken zu, ging zum Fernsehgerät und starrte auf den Bildschirm.
Ich drückte die Wange auf den Stein und schob ihn in meine Hosentasche. Holte mein Handy heraus und wählte Grants Nummer. Er antwortete nach dem dritten Klingeln. »Maxine.« Er klang atemlos.
»Mir geht’s gut.« Ich war mir bewusst, dass Sucher lauschte. »Und du?«
»Wir sind unterwegs. Byron, Jack und ich. Wir kommen nach Hause.«
Ich atmete langsam aus. »Irgendwelche Probleme?«
»Nur du. Bist du in Sicherheit?«
»So sicher, wie es geht. Komm einfach her.«
»Halt durch«, sagte er. Ich hörte im Hintergrund eine leise Stimme. Sie klang erschöpft und jung. »Ich bin bei dir.«
Wir beendeten das Gespräch. Als ich aufblickte, begegnete ich Suchers Blick, der mich beobachtete, statt fernzusehen.
»Was?«, fragte ich, als er den Blick nicht abwandte.
Er runzelte schwach die Stirn. »Dein Mann. Wer ist er?«
»Tu das nicht!«
»Es ist nur eine einfache Frage.«
»Nein.« Ich beugte mich vor und sah ihm in die Augen. »Wenn du ihm wehtust, ihn auch nur schräg ansiehst, dann reiß ich dir alle Glieder einzeln aus!«
Er grinste. »Und schlägst mich anschließend damit tot?«
»Das überlasse ich den Jungs.«
Sein Lächeln verstärkte sich unmerklich. »Wer ist er?«
Ich griff in meine Jacke. Die Messer meiner Mutter waren noch da. Sucher wandte mir erneut den Rücken zu und blickte auf den Bildschirm. Sein glattes Haar verbarg sein markantes Gesicht. Ich entspannte mich nicht, stand auf, trat neben ihn und nahm unmittelbar, bevor sich seine Miene verhärtete, die Trauer auf seinem Gesicht wahr. Eine tiefe, schwere Trauer, eine Hilflosigkeit, die jedes hasserfüllte Wort, jeden bösen Blick, jedes Vorurteil in Asche verwandelte.
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