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Gefaehrtin Der Daemonen

Titel: Gefaehrtin Der Daemonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Wind.
    Ich erinnerte mich daran. Wie ich in den Sicherheitsgurt geschleudert wurde, als der Kombi in einer Schneewehe stecken blieb. Der Schnee reichte bis zu meinem Fenster. Metall knirschte, die Stoßstange, der Vorderreifen, meine Tür. Unter uns erschütterte ein krachender Stoß den Wagen.
    Wir saßen fest, waren am Ende. So gut wie tot. Mehr als tot sogar. Meine Mutter zeigte mir die Dornen, die in Schnee und Eis vergraben waren: winzige Metallsterne, so scharf, dass ihre Spitzen in meine Handfläche stachen, wenn ich mich bückte und einen davon berührte. Sie deutete auf die zerfetzten Reifen, deren Gummi in Streifen von den Felgen hing, sagte mir, ich sollte keine Angst haben, nannte es ein Spiel.
    Sie räumte die Straße hinter uns. Ich beobachtete sie vom Wagen aus, das Gesicht an das kalte, beschlagene Glas gepresst. Vor meinen Augen jonglierte sie mit den stachligen Dornen und
zuckte nicht einmal zusammen, wenn die scharfen Spitzen von ihren tätowierten Händen abprallten. Sie tanzte in dem Schneegestöber, mit glänzenden Augen und Wangen, die so blutrot wie Rosen waren. Bis ich es nicht länger aushalten konnte. Ich lief zu ihr, sie nahm meine Handgelenke und schwang mich im Kreis herum, bis wir beide hinfielen.
    Ich erinnerte mich an ihr Lachen. Und wie ich mich erinnerte!
    Ich erinnerte mich auch daran, dass ich nicht mit ihr gehen wollte. Ich wollte lieber am Wagen bleiben, ich wollte zu Hause bleiben, also im Wrack: Radio hören, mit meinen Puppen spielen. Meine Mutter erlaubte es mir aber nicht: es sei viel zu gefährlich, üble Gestalten liefen herum. Ich war noch zu klein, um die Pumpgun zu bedienen, die unter den Rücksitzen verstaut war, oder auch nur die Pistole im Handschuhfach. Und die Jungs schliefen noch. Alles Mögliche konnte passieren.
    Also packten wir zusammen und schlurften langsam durch das dumpfe Schweigen des Schnees und an den endlosen winterweiß gegabelten Knochen der Bäume entlang. Meine Mutter trug mich auf dem Rücken. Was ich sah: silberne Wolken meines Atems, die die Tätowierungen auf ihrem Hals liebkosten; das träge rote Auge, Zee, das mein Gesicht in seinen Träumen verfolgte. Ich fühlte die Messer unter ihrem schwarzen Wollmantel, der viel zu dünn und zu kurz für einen Schneesturm war, für jeden, nur für eine Frau nicht, die keine Kälte spürte. Ich hörte das Lied, das sie sang, untermalt vom Knirschen ihrer Stiefelabsätze auf der leeren verschneiten Straße: Folsom Prison Blues . Ihre Stimme klang wie der Sonnenschein und das Rumpeln eines langsamen Güterzugs.
    Eine Meile hinter uns lag eine Bar. Ein einsames Rasthaus. Mitten im Nichts, nur ein Schuppen, dessen Neonreklame, eine nackte Frau, durch die schmutzigen geschwärzten Scheiben flackerte.
Ihre Nippel blinkten. Auf dem kleinen gestreuten Parkplatz standen Pick-ups. Der Geruch von Gebratenem und heißem Motoröl stieg mir in die Nase.
    Meine Mutter zögerte, als sie den Schuppen sah, wie sie auch schon gezögert hatte, als wir daran vorbeigefahren waren. Sie schwankte, ihre Schultern zuckten. Wir waren beide schneebedeckt. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, spürte aber ihre Anspannung. Atmete sie ein. Ich blickte nach unten. Zee bewegte sich schläfrig auf ihrer Haut. Tätowierungen, die sich abschälen wollten.
    Wir betraten die Bar. Meine Mutter ließ die Tür hinter uns zuschlagen. Ich konnte nichts sehen, es war zu dunkel und zu verraucht, hörte nur Gelächter und Rockmusik. Nach dem eisigen Schneesturm umfing mich eine Hitze wie in einem Ofen. Ich hielt mich fest, drückte mein Gesicht an den Hals meiner Mutter. Sie rührte sich nicht, sagte kein Wort, blieb mit dem Rücken zur Tür stehen: so reglos, dass ich nicht mal ihren Atem spürte. Um uns herum erstarben schlagartig die Stimmen, und die Musik, das tiefe, rollende Klagen einer elektrischen Gitarre, brach ab. Schweigen breitete sich aus. So bedächtig, kalt und schwer wie der Schnee selbst. Eine schwangere Stille: Dieses Wort hätte ich benutzt, hätte ich es denn gekannt. Ein erwartungsvoll geladenes Schweigen in diesem dunklen, rauchigen Leib, schwanger von etwas Lebendigem, das sich wand.
    »Jägerin Kiss«, sagte eine tiefe, leise Stimme. »Lady Jäger.« Ich spähte über die Schulter meiner Mutter, vorbei an den wilden schwarzen, von Schnee bedeckten Locken. Sie drückte mein Bein. Ich gehorchte nicht, musste einfach hinsehen. Es war immer noch schwierig, etwas zu erkennen. Nur über der Bar brannte eine Lampe, die einen

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