Gefaehrtin Der Daemonen
sie sich wieder sicher bewegen konnte. Alles getan, egal was, um zu überleben.
Ich sah erneut auf die Bildunterschrift. Ihr Name war mit Miss Chambers angegeben, ein Alias, das ich nicht kannte. Miss Chambers, Abenteurerin. So nannte man sie hier. Irgendwie ganz passend.
Ich überflog den Artikel, in dem diskutiert wurde, wie Dr. Jack Meddle auf einen uralten Tempel gestoßen war, als er eine Expedition mit dem Ziel der Seidenstraße unternahm. Er war fast hundert Meilen nördlich von Xi’an im Sand vergraben. An diesem Ort hatten viele gebetet, Christen, Moslems und Buddhisten.
Jetzt wurden einige Artefakte aus diesem Tempel im Seattle Art Museum gezeigt, als Teil einer Wanderausstellung von uralten asiatischen Antiquitäten. Die Eröffnung sollte, laut der Zeitung, heute Abend stattfinden. Es war eine große Gala, die
zufällig mit dem chinesischen Neujahrsfest zusammenfiel, das unmittelbar bevorstand.
Und Jack Meddle war persönlich anwesend.
Ich lehnte mich auf Badelts Stuhl zurück und schloss die Augen. An Zufälle glaubte ich nicht. Meddle hatte meine Großmutter gekannt, und jetzt saß ich hier, mit einem Foto von ihnen vor der Nase, das ich im Büro eines Privatdetektivs gefunden hatte, der sich meinen wahren Namen aufgeschrieben hatte.
Ich sah erneut auf das Foto meiner Großmutter, betrachtete ihren Blick, der meinem so ähnlich war, und fühlte, dass ich auch meine Mutter anblickte. Es war unheimlich.
Außerdem sah ich noch etwas Merkwürdiges.
Meine Großmutter stand sehr dicht bei Meddle. So dicht, dass sie sogar seine Hand halten konnte. Oder ihren Arm um seine Taille geschlungen hatte. Oder sie auf seinen Hintern legte. Das war schwer zu sagen. Ich konnte ihre Hände nicht sehen, weil sie hinter ihrem Rücken versteckt waren. Ihre Schultern schienen aneinanderzukleben, und ihre Oberkörper waren einander leicht zugewandt. Sie schienen die Gegenwart des anderen zu genießen, als wären sie es gewohnt, sich nahe zu sein. Zusammenzuarbeiten.
Erneut warf ich einen Blick auf das Datum. 1957. Aber kein besonderer Monat.
Es überlief mich kalt. Meine Mutter war 1958 geboren worden.
»Nein«, sagte ich laut und sah die Jungs an. Die erwiderten meinen Blick wie Sängerknaben. Viel zu unschuldig, die kleinen Teufel. Zee trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Dek und Mal lagen zusammengerollt und vollkommen regungslos auf meinen Schultern.
Nein, das war unmöglich.
Aber es wäre logisch gewesen. Vielleicht war es auch nur ein frommer Wunsch. Die Frauen in meiner Familie redeten nie
über die Väter. Oder Großväter. In den Tagebüchern gab es keinerlei Aufzeichnungen über sie. Man hätte durchaus an Störche glauben können, so wenig hatte meine Mutter jemals über Sex, Männer und Babys geredet. Das war ein wunder Punkt.
Ich warf einen Blick auf die Uhr: kurz nach acht. Die Gala endete um elf, also hatte ich noch genug Zeit. Ich betrachtete wieder das Foto, faltete die Zeitung dann sorgfältig, schob sie in die Gesäßtasche meiner Jeans und half den Jungs, die Aktenordner wieder einzuräumen. Sie waren ruhig und bedrückt, so wie ich.
Ich kannte meine Großmutter ausschließlich von Fotos und durch ihr Tagebuch. Sie hatte nur ein einziges Tagebuch geschrieben. Ihr Schreiben und ihre Sprache waren knapp und auf den Punkt gebracht. Ich dachte an all die anderen Frauen vor ihr, die zahllosen Frauen, die gegen die Dämonen gekämpft hatten; eine Kette von Frauen, von Mutter zu Tochter, die seit mehr Jahrtausenden ungebrochen war, als ich mir vorzustellen vermochte. Über sie wusste ich noch weniger.
Ob Zee und die anderen mich vermissen würden, wenn ich nicht mehr da war?
Als Badelts Büro aufgeräumt war, musterte ich die Jungs und tätschelte Deks und Mals Kopf. »Ist der Mann auf dem Foto mein Großvater?«
Zee antwortete nicht. Rohw und Aaz starrten auf den Boden. Ihre kleinen Klauen gruben sich ins Holz, und ihre Stacheln lagen flach an ihrer schuppigen Haut. Ich wusste nicht, ob das ein Ja oder ein Nein sein sollte, doch offenbar war es ebenfalls ein Thema, das nicht zur Diskussion stand. Davon hatte es heute schon viel zu viele gegeben.
Ich sah sie scharf an, ging zur Tür und öffnete sie.
Davor wartete ein Dämon.
5
E rwarte stets das Unerwartete , hatte meine Mutter einmal gesagt. Weil das Unerwartete sehr wahrscheinlich auf dich wartet.
Der Dämon überragte den Türrahmen; er war so groß, dass ich mir fast den Hals verrenkte, als ich zu ihm hochsah. Sein Umhang
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