Gefaelschtes Gedaechtnis
sich.
Als sie ihren Kaffee getrunken hatte, ging sie in den Laden, um Holzkohle und zwei Steaks zu kaufen, die der Metzger ihr in Eis packte. Sie verstaute die Einkäufe hinten im Wagen und ging dann zur Wohnung ihrer Schwester, zwei Querstraßen weiter.
Ramon stand in seiner Portiersuniform im Foyer. Als er Adrienne sah, erhellte ein breites Lächeln sein Gesicht, und er hielt ihr die Tür auf. »Hallo!«, rief er. »Schön, Sie zu sehen. Möchten Sie die Post holen?«
Sie schüttelte die Kälte mit einem letzten Frösteln ab, stampfte kräftig mit den Füßen auf, damit sie warm wurden, und sagte: »Ja, und ein bisschen sauber machen. Wie geht's Jacko?«
»Besser denn je. Und wissen Sie was? Ich bin meiner Berufung gefolgt, wie Nikki gesagt hat.«
»Hat sie das?«
»Ja. Wir haben uns unterhalten, kurz bevor — es passiert ist. Und ich hab die Rolle angenommen.«
»Welche Rolle?«
»In dem Scorsese-Film. Ich bin >Portier Nr. 2— Ramon Castro de Vega<. Was sagen Sie nun?«
»Wow!
»Und jetzt überleg ich, es vielleicht mal am Theater zu probieren, wieso nicht?«
»Ja, wieso nicht?«
»Jedenfalls ... die Post liegt oben in der Wohnung auf der Arbeitsplatte in der Küche. Ich hab sie Ihnen da hingelegt. Brauchen Sie den Schlüssel?«
»Nein«, sagte Adrienne. »Ich hab einen.«
Ramon begleitete sie zum Fahrstuhl, drückte den Knopf und tippte sich an den Schirm seiner Mütze. »Ich werde Jacko erzählen, dass Sie sich nach ihm erkundigt haben.«
»Das wäre nett.«
Und dann war sie oben, ging auf die Wohnungstür ihrer Schwester zu und dachte, ich muss was wegen ihrer Asche unternehmen. Ich muss —
Als sie die Wohnung betrat, traf sie die Trauer mit einer Wucht, die ebenso stark wie unerwartet war. Vielleicht lag es an dem Stress der letzten Tage, oder vielleicht war es die Wohnung, mit den toten Pflanzen und der abgestandenen Luft. Die Traurigkeit überrollte sie wie eine Walze. Zum zweiten Mal an diesem Morgen schossen ihr Tränen in die Augen. Sie ging hinaus auf den Balkon, stand in der eisigen Kälte und weinte um Nikki.
Nach einigen Minuten ertrug sie die Kälte nicht länger. Sie ging wieder hinein und fing an zu arbeiten. Die Wohnung war deprimierend, und die Unordnung schien ihr irgendwie respektlos Nikki gegenüber. Eines Tages würde sie hier aufräumen müssen, und sie dachte, es würde ihr vielleicht gut tun, es jetzt gleich zu erledigen.
Der Kühlschrank stank widerlich. Sie warf alle Reste in einen Müllsack und trug ihn zum Müllschlucker draußen auf dem Flur. Dann ging sie mit Haushaltstüchern und einer Sprühflasche Reinigungsmittel von Zimmer zu Zimmer und wischte Staub. Als sie damit fertig war, biss sie die Zähne zusammen und ging ins Badezimmer— wo die Polizei ein ziemliches Chaos hinterlassen hatte. Überall Fingerabdruckpulver, denn, wie die Polizei erklärt hatte, solange der Tod ihrer Schwester nicht definitiv als Selbstmord eingestuft worden war, musste der Tatort so behandelt werden, als wäre ein Mord geschehen.
Die Pflanzen auf dem Balkon waren tot, aber Adrienne hatte nicht die Energie, sie wegzuschaffen. Also schob sie sie in einer Ecke der Terrasse zusammen, sodass sie wenigstens etwas ordentlicher aussahen.
Damit blieb noch das Gewehr. Adrienne hatte viel darüber nachgedacht. Falls Nikki die Waffe selbst gekauft hatte, dann wo und wann? Vielleicht konnte sie das zurückverfolgen. Schließlich musste die Waffe eine Seriennummer haben. Adrienne ging zu dem Schrank, öffnete die Tür und griff hinein, um den grünen Tragekoffer herauszunehmen.
Aber er war nicht da.
Zuerst dachte sie, sie hätte vergessen, wo er gewesen war. Sie hob die Tagesdecke vom Bett an, sah auf dem Boden nach und entdeckte ... ein Gewirr von Staubflocken und ein paar Taschenbücher. Sie richtete sich auf, ging in den Flur und sah dort im Schrank nach, dann im Wohnzimmer und unter- der Couch, sie suchte alles ab. Aber er war weg. Er war groß und grün, und sie konnte ihn nicht übersehen haben ... aber er war weg.
Genauer; er war gestohlen worden. Der Gedanke, sich mit dem Gewehr auseinander setzen zu müssen, war ihr zwar zuwider, aber die Vorstellung, dass jemand in Nikkis Wohnung eingedrungen war und es mitgenommen hatte, verursachte ihr eine Gänsehaut. Es erinnerte sie an das, was in Durans Wohnung passiert war, als Bonillas Leiche einfach so verschwand.
Alles erschien ihr gefährdet und unzuverlässig. Wenn sie darüber nachdachte, wurde ihr fast schlecht. Als wäre ihr
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