Gefaelschtes Gedaechtnis
starr zur Decke gerichtet. Sie spürte jäh, wie Ärger in ihr aufstieg. »Ja, allerdings!«
»Tja, da bin ich überfragt«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen.« Sie funkelte ihn. an. »Vielleicht eine Pizza bestellen«, schlug er vor.
»Eine Pizza?«
»Ja. Und duschen. Ich—«
Sie brach in Tränen aus.
Als sie Duran so daliegen sah, wurde ihr schlagartig bewusst, dass sich die missliche Lage, in der sie beide steckten, nicht in absehbarer Zeit ändern würde. Und wenn doch, dann vermutlich nicht zum Besseren. Bis jetzt hatte sie an dem naiven Glauben festgehalten, dass sich schon irgendwie alles klären würde und sie dann wieder da wäre, wo sie hingehörte — in ihrem wirklichen Leben, mit ihrem wirklichen Job.
Aber jetzt wusste sie, das würde nicht passieren. Aus dieser Geschichte konnte sie sich nicht einfach mit guter Organisation herausmanövrieren. Sie saß fest, auf unbestimmte Zeit, mit einem Irren in einem billigen Hotel in der Vorstadteinöde. Ihre Wohnung war verwüstet worden. Ihre Schwester war tot. Der Mann, der ihr geholfen hatte, war tot. Die Polizei hielt sie für verrückt. Und irgendwer versuchte, sie umzubringen.
So war die Situation, und darin fand sich kein Raum mehr, um ihr schwarzes Kostüm aus der Reinigung zu holen oder weiter an dem Amalgamated-Fall zu arbeiten. Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Deshalb weinte sie, was Duran derart bestürzte und verlegen machte, dass er ins Bad hastete und mit einer Hand voll Kleenex wieder herauskam. »Wird schon wieder werden«, sagte er und hielt ihr ein Papiertaschentuch hin. »Nicht weinen.« Was alles nur noch schlimmer machte, weil das ihre Mutter immer zu ihr gesagt hatte.
Und ihre richtige Mutter - »Deelegat« - war eine Katastrophe gewesen.
Mit fünfzehn schwanger. Mit sechzehn Sozialhilfeempfängerin. Mit achtzehn heroinsüchtig. Mit vierundzwanzig in der Autopsie. Zu viel des Guten, wie der Gerichtsmediziner feststellte.
Nikki war alt genug gewesen, um sich an die letzte Überdosis ihrer Mutter zu erinnern, und sie hatte Adrienne oft davon erzählt, wie sie, Nikki, hysterisch geworden war, als sie ihre Mutter in einer Lache Erbrochenem fand. Wie sie weinend und schreiend durchs Haus gerannt war, während die dreijährige Adrienne (und an dieser Stelle spielte Nikki immer Adriennes Rolle, das Gesicht die reine Unschuld, die Augen groß und ernst) zu den Nachbarn gelaufen war und gesagt hatte: »Wir brauchen Hilfe. Meine Mommy ist krank.«
Adrienne erinnerte sich nicht mehr daran. Tatsächlich erinnerte sie sich überhaupt nicht mehr an ihre Mutter - nur an die tröstlichen Worte und manchmal an ein süß duftendes Kleenextuch. Was Dad anging, tja ...
Sein vollständiger Name war wohl >Unbekannt<. Zumindest stand das auf der Geburtsurkunde in der Rubrik Vater.
Sie und Nikki hatten oft gemeinsam überlegt, wer er war. Eine Zeit lang stellten sie ihn sich als stattlichen Geschäftsmann und Erfinder mit einem Namen wie >Charles DeVere< vor, der in einer der reichen Enklaven im Brandywine Valley wohnte. Gefangen in einer gefühlskalten Ehe, hatte er sich in ihre schöne, wenngleich unglückselige Mutter verliebt, die sich, als sie ihn verlor, zuerst mit Alkohol und dann mit Drogen zu trösten versuchte. Schließlich war sie in den Slums von Wilmington gelandet, wo sich alle Spuren verloren. Selbst jetzt noch suchte ihr Vater — und es war immer ihr gemeinsamer Vater, wie hoch die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Erzeuger auch war — nach seinen verschollenen Töchtern, indem er in allen großen Zeitungen inserierte und scharenweise Privatdetektive engagierte.
»Worüber lachen Sie?«, fragte Duran, der auf dem Bett saß und den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte.
Die Frage riss Adrienne aus ihren Erinnerungen. Sie hatte aus dem Fenster auf den Parkplatz gestarrt und aus irgendeinem Grund in sich hineingelacht. »Ich musste gerade an meinen Vater denken«, sagte sie. Dann sah sie, dass Duran telefonierte, und wurde mit einem Mal misstrauisch. »Wen rufen Sie an?«, fragte sie argwöhnisch.
»Pizza-Service«, erwiderte Duran.
»Oh.«
»Ich bin in der Warteschleife. Wollen Sie Salami drauf?«
Sie nickte. »Hört sich gut an.«
Dann meldete sich jemand am anderen Ende, und Duran gab die Bestellung auf. Adrienne blickte wieder zum Fenster hinaus, während ein sanfter Regen gegen die Scheibe getrieben wurde. In einer Gegend wie dieser war sie aufgewachsen, ein paar Meilen
Weitere Kostenlose Bücher