Gefahrenzone (German Edition)
hatten.
Erneut schrie er die vier Wärter an, und erneut schenkten sie ihm keinerlei Beachtung.
Selbst nach mehr als acht Monaten hier in der Matrosskaja Tischina hatte sich der sechsunddreißigjährige Walentin Kowalenko noch nicht daran gewöhnt, auf diese Weise ignoriert zu werden. Als ehemaliger stellvertretender Resident des russischen Auslandsnachrichtendienstes Sluschba Wneschnei Raswedki konnte er früher davon ausgehen, dass man seine Fragen beantwortete und seine Befehle befolgte. Von Anfang zwanzig bis Mitte dreißig war er ein aufsteigender Stern innerhalb des SWR gewesen, dem man bereits in diesen jungen Jahren den hervorgehobenen Posten des stellvertretenden Leiters der Londoner Station übertragen hatte. Dann hatte er sich vor einigen Monaten zu einem schweren beruflichen und persönlichen Fehler verleiten lassen und war brutal abgestürzt.
Seit seiner Verhaftung durch Beamte des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB in einem Lagerhaus im Moskauer Mitino-Viertel im Januar saß er nun in dieser Untersuchungshaftanstalt. Grundlage hierfür war eine Verfügung des Präsidenten. Die wenigen leitenden Gefängnisverwalter, denen er bisher begegnet war, hatten ihm seitdem immer wieder mitgeteilt, dass sein Prozess auf unbestimmte Zeit verschoben worden sei. Einer von ihnen hatte ihm sogar geraten, sich mental darauf vorzubereiten, dass er noch viele Jahre in seiner hiesigen Zelle verbringen würde. Wenn er Glück hätte, würde man vielleicht irgendwann alles vergessen und ihn nach Hause schicken. Andererseits sei es auch durchaus möglich, dass er nach Sibirien in ein Arbeitslager verfrachtet würde.
Kowalenko wusste, dass dies sein Todesurteil bedeutet hätte.
Vorläufig musste er sich Tag für Tag ein Eckchen in einer Massenzelle erkämpfen, in die man hundert Gefangene gepfercht hatte. Nachts schliefen sie alle in Schichten auf ihren mit Ungeziefer verseuchten Pritschen. Krankheiten, Streitereien und die nackte Verzweiflung prägten jetzt jede einzelne Stunde seines armseligen Daseins.
Von anderen Insassen erfuhr er, dass man durchschnittlich zwei bis vier Jahre auf seine Verhandlung warten musste, wenn man nicht die entsprechenden Verantwortlichen bestach oder politische Verbindungen besaß. Kowalenko wusste, dass er keine zwei bis vier Jahre mehr hatte. Wenn seine Mithäftlinge erfuhren, dass er ein hochrangiges Mitglied des russischen Geheimdiensts gewesen war, würden sie ihn innerhalb von zwei bis vier Minuten zu Tode prügeln.
Die meisten Insassen der Matrosskaja Tischina mochten Polizisten und Geheimdienstleute nicht besonders.
Die Angst vor Enttarnung und dem, was diese für ihn bedeuten würde, kam Kowalenkos Feinden außerhalb des Gefängnisses, die meist zur Federalnaja Sluschba Besopasnosti, dem russischen Inlandsgeheimdienst, gehörten, recht gelegen. Sie gewährleistete, dass ihr lästiger Gefangener über die näheren Umstände seiner Gefangennahme schweigen würde.
In den ersten ein oder zwei Monaten hatte er noch ab und zu Kontakt zu seiner Frau gehabt, die in ihrer Verwirrung regelrecht hysterisch wirkte. In ihren kurzen Telefongesprächen hatte er ihr nur versichert, dass am Ende alles in Ordnung käme und sie sich keine Sorgen machen müsse.
Schließlich stellte sie jedoch ihre Besuche im Gefängnis ein und rief ihn auch nicht mehr an. Nach einiger Zeit teilte ihm der stellvertretende Anstaltsdirektor mit, dass sie die Scheidung eingereicht und das alleinige Sorgerecht für ihre gemeinsamen Kinder beantragt habe.
Aber das war noch nicht einmal die schlimmste Nachricht. Kowalenko erfuhr aus dunklen Kanälen, dass tatsächlich niemand seinen Fall bearbeitete. Es war schon frustrierend genug gewesen, dass er bisher keinen Verteidiger gesehen hatte, aber die Tatsache, dass nicht einmal eine Anklage vorbereitet wurde, verhieß nichts Gutes. Er würde wohl in diesem schrecklichen Käfig einfach verrotten.
Er hatte Angst, innerhalb der nächsten sechs Monate an einer Gefängniskrankheit zu sterben.
Während die Rolltrage nach rechts abbog, musterte Kowalenko im gedämpften, kalten Licht der Deckenbeleuchtung seine Wärter. Er erkannte zwar keinen von ihnen, aber sie wirkten auf ihn ebenso roboterhaft wie der Rest der Wachmannschaft. Er wusste, dass er von ihnen keine nützlichen Informationen bekommen würde. Trotzdem schrie er sie in seiner Panik wieder einmal an, als sie ihn durch ein weiteres Gittertor schoben, das aus dem Zellenblock hinaus in den Verwaltungstrakt der
Weitere Kostenlose Bücher