Gefahrenzone (German Edition)
US-Botschafter in China mit chinesischem Hintergrund hatte man am Tag zuvor aus Peking zurückgerufen. Sein Flugzeug war gerade erst nach einem siebzehnstündigen Flug auf der Andrews-Luftwaffenbasis gelandet. Obwohl Lis Anzug und Krawatte frisch und makellos aussahen, bemerkte Ryan, dass Li selbst verquollene Augen hatte und die Schultern hängen ließ. »Ken«, sagte Ryan. »Im Moment kann ich mich nur entschuldigen, dass ich Sie so kurzfristig zurückrufen musste, und Ihnen anbieten, dass Sie kostenlos Kaffee nachfüllen können, so oft Sie wollen.«
Im ganzen Raum war leises Kichern zu hören.
Kenneth Li rang sich trotz seiner Müdigkeit ein Lächeln ab und erwiderte: »Eine Entschuldigung erübrigt sich. Ich freue mich, hier zu sein. Und ich nehme das Kaffeeangebot dankend an, Mr. President.«
»Schön, dass Sie heute bei uns sind.« Ryan, der seine schmale Brille fast bis zur Nasenspitze heruntergeschoben hatte, wandte sich jetzt an alle Anwesenden. »Meine Damen und Herren, Präsident Weis Rede hat mir zu denken gegeben, und ich glaube, dass es Ihnen genauso gegangen ist. Ich möchte jetzt gern wissen, was Sie wissen, und ich möchte zudem wissen, was Sie denken. Wie üblich, bitte ich Sie, deutlich zwischen diesen beiden Sachen zu unterscheiden.«
Die Männer und Frauen im Oval Office nickten. Jack Ryan sah ihren Augen an, dass jeder hier die Wichtigkeit von Weis Aussagen erkannt hatte.
»Fangen wir mit Ihnen an, Ken. Bis vor zwanzig Stunden sah es so aus, als ob Präsident Wei zu Hause zwar eine Art Hardliner war, gleichzeitig jedoch wusste, dass man seine Geschäftspartner nicht verärgern sollte. Er war der wirtschaftsfreundlichste und kapitalismusfreundlichste chinesische Führer, mit dem wir es jemals zu tun hatten. Was hat sich geändert?«
»Offen gesagt, Mr. President, hat sich an seinem Wunsch, mit dem Westen Geschäfte zu machen, überhaupt nichts geändert«, antwortete Botschafter Li. »Er will diese Handelsbeziehungen, und er braucht diese Handelsbeziehungen. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme, mit denen China zu kämpfen hat, braucht er uns sogar mehr denn je, und er weiß das besser als irgendwer sonst.«
Ryans nächste Frage richtete sich erneut an den Botschafter. »Wir kennen den Unterschied zwischen Weis Image im Westen und seinem harten innenpolitischen Kurs, der vor allem die Interessen der Partei im Auge hat. Was können Sie uns über diesen Mann sagen? Ist er so fähig, wie viele denken, oder ist er so übel, wie manche befürchten, vor allem wenn man an all die Proteste denkt, die China gegenwärtig erschüttern?«
Li dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. »Die Kommunistische Partei Chinas zwingt dem chinesischen Volk bereits seit 1949 ihren Willen auf. Über die Tuidang-Bewegung wurde zwar in der Auslandspresse bisher noch nicht allzu viel berichtet, sie ist jedoch in China selbst ein wichtiges Kulturphänomen geworden. Gerade die alte Parteigarde ist ihretwegen ernstlich besorgt.
Darüber hinaus hat es in den letzten Monaten zahlreiche Streiks und Menschenrechtsproteste gegeben, die Unruhe in den Provinzen ist gewachsen, und fern von der Hauptstadt sind sogar einige kleinere Aufstände ausgebrochen.
In den letzten vierzig Jahren war man im Westen im Allgemeinen der Ansicht, dass das Wachstum des Kapitalismus und die zunehmenden Verbindungen zum Rest der Welt dazu führen würden, dass sich in China langsam, aber sicher eine freiheitlichere Denkweise durchsetzen würde. Aber diese ›Liberale Entwicklungstheorie‹ hat sich unglücklicherweise als falsch herausgestellt. Anstatt sich politisch zu liberalisieren, hat die Kommunistische Partei Chinas ihre Ablehnung des Westens auf fast paranoide Weise verstärkt. Was wir als freiheitliche Werte betrachten, halten sie für einen Trick des Westens, die Entwicklung Chinas zu behindern. Wei ist zwar immer für eine Liberalisierung der Wirtschaft eingetreten, hat jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit betont, mit aller Kraft gegen die Tuidang und größere persönliche Freiheiten vorzugehen.«
Jetzt meldete sich Außenminister Scott Adler zu Wort. »Wei hatte immer schon zwei Gesichter. Er glaubt an die Partei und an eine von ihr geführte Zentralregierung. Er glaubt nur nicht mehr an das kommunistische Wirtschafts modell. Seit er an die Macht gekommen ist, hat er jede abweichende Meinung unterdrückt, die Reisefreiheit zwischen den Provinzen beseitigt und an einem einzigen Tag mehr Websites abschalten lassen als
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