Gefahrliches Vermachtnis
ab, um auch ihre Eltern zu begrüßen. Sie hatten sich wenig verändert in den letzten Monaten. Ihre Mutter blickte in die Ferne, nur ihr Vater starrte sie an. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Sie wusste, was passieren würde, wenn sie alleine waren. Sie sagte ihm dasselbewie Nicky. „Niemand hier wird dir schaden. Ich gebe dir mein Wort.“
„Das ist ja interessant!“, mischte sich Phillip ein. „Vor allem wenn man bedenkt, dass der Einfluss dieser Familie nicht einmal verhindern konnte, dass einer von ihnen abgeknallt wurde wie ein Hund.“
Dawn sah Phillip zum ersten Mal; er war ein Fremder für sie. „Entschuldigung, aber wir wurden uns noch nicht vorgestellt.“
„Das ist mein Sohn, Phillip Benedict“, erklärte Nicky.
Dawn kannte seinen Namen; sie hatte schon oft Artikel von ihm gelesen. Bevor sie reagieren konnte, sagte Jake: „Wir bleiben. Alle.“
Dawn bemerkte den aufkommenden Unmut in Nickys Augen. Sogar verärgert war Nicky eine atemberaubend schöne Frau; Frauen wie sie hatten im neunzehnten Jahrhundert Duelle verursacht. „Wir bleiben eine Nacht“, lenkte sie ein.
Dawn bewunderte die Art, mit der Nicky ihrem Ehemann in der Öffentlichkeit weder zugestimmt noch widersprochen hatte. Sie würden eine Nacht bleiben. Im Klartext: Ob sie länger blieben, würden sie noch miteinander besprechen.
Ben, der neben Phillip stand, bot seine Hilfe beim Koffertragen an. Die Gemeinsamkeiten der beiden Männer waren interessanter als ihre Unterschiede. Beide benahmen sich, als ob sie kostbare Fracht mit sich herumtrugen, als ob das Wissen, dass sie sich mühsam angeeignet hatten, sie meilenweit von anderen sterblichen Wesen abhob. Und obwohl Phillip sie nie zuvor gesehen hatte, schienen Ben und er im Urteil über sie und ihre Familie einer Meinung zu sein.
„Warum begleiten Sie mich nicht nach oben, während die Männer sich ums Gepäck kümmern?“, fragte sie Nicky. „Vielleicht sagt Ihnen ein anderes Zimmer mehr zu.“
Nicky war einverstanden. Als sie die Stufen emporstiegen, bemerkte Dawn, dass ihre Eltern verschwunden waren. Nur Spencer blickte ihnen hinterher. Er wirkte erschöpft.
Dawn blieb einen Moment in der Eingangshalle stehen, weilsie sich trotz der merkwürdigen Situation verpflichtet fühlte, Konversation zu machen. „Das ist ein großes Haus, obwohl es von außen nicht so aussieht. Es wurde vor über hundert Jahren erbaut. Als ich klein war, lag ich nachts oft wach und horchte auf ihre Stimmen.“
„Haben Sie etwas gehört?“
„Was würden Sie von mir halten, wenn ich Ja sagen würde?“
„Dass Sie eine blühende Fantasie haben.“
„Ich bin Fotografin. Manche Menschen glauben nicht, dass man dafür viel Fantasie braucht.“
„Manche Menschen glauben auch nicht, dass man Fantasie braucht, um anderer Leute Lieder zu singen.“
Dawn spürte einen Anflug freundschaftlicher Gefühle. Sie erklärte die Anordnung der unteren Räume und begab sich in den zweiten Stock. Ihre Mutter war verschwunden; Dawn hoffte, dass sie ihr nicht begegnen würden. Seit sie sich offen über ihren Vater hinweggesetzt hatte, erwartete sie sein Erscheinen mit noch weniger Begeisterung.
Sie führte Nicky in ein Schlafzimmer am Ende des Korridors. Es war groß und luftig und mit schlichten, antiken Pinien- und Zypressenholzmöbeln ausgestattet. Auf dem Bett aus dem neunzehnten Jahrhundert lag eine gehäkelte Spitzenüberdecke.
„Dieses Zimmer gehörte meiner Großmutter.“ Dawn ging hinein und fühlte sich sofort vom vertrauten Geruch nach Rosen und Vetiver umhüllt. Düfte, die Dawn immer mit Aurore verbinden würde. „Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Es gibt ein extra Badezimmer.“
„Das ist das Zimmer Ihrer Großmutter?“
„Es gehört zu den größeren Zimmern des Hauses, und es war ihr Lieblingszimmer, weil man von hier aus eine herrliche Aussicht hat.“ Sie öffnete die Fenster des französischen Balkons. Frische Luft drang in das Zimmer und vermischte sich mit den vorherrschenden Düften.
„Warum geben Sie mir dieses Zimmer?“
Dawn sah ihr ins Gesicht. „Warum nicht?“
„Sie kennen die Antwort.“
Nicky hatte recht: Dawn war die Tochter von Ferris Lee Gerritsen, der dafür bekannt war, die Bürgerrechte abzulehnen. „Ich hoffe, Sie verwenden Vaters Vorurteile nicht gegen mich. Ich bin nicht wie er.“
„Sie sind überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte.“
„Sie dafür umso mehr.“ Als Fotojournalistin hatte Dawn gelernt, Gesichter
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