Gefahrliches Vermachtnis
aufschließen könnte?“
Er ging zum nächstbesten Fenster und benutzte einen Zipfel des fadenscheinigen grünen Vorhangs, um es zu entstauben. Immerhin wurde es etwas heller. Sie folgte seinem Beispiel, bis alle Fenster sauber waren. „Ich glaube, wie sollten am besten irgendwo anfangen und uns dann langsam vorarbeiten.“
„Hat deine Großmutter schon jemals etwas weggeworfen?“
„Offensichtlich nicht.“ Dawn näherte sich einer alten Kommode mit einer gesprungenen Marmoroberfläche. Die Schränke ließen sich leicht öffnen. Als es in einer Ecke raschelte, schloss sie rasch die Tür.
„Mäuse.“
„Wenn es nichts Schlimmeres ist.“
„Bitte.“ Sie öffnete einen Kleiderschrank, in dem Dutzende von alten Kleidern hingen; ein Spaziergang durch die Mode des letzten Jahrhunderts. „Es gibt Museen, die sich darum reißen würden.“
„Ich habe noch nichts zum Aufschließen entdeckt.“
„Wir sind ja auch noch nicht fertig.“
Dawn wühlte in staubigen Bücherkisten, während Ben die Möbel inspizierte. Dann entdeckte sie die Truhe. Sie erinnerte sich gut daran, weil es die Truhe mit den Familienfotos war. Einige der Bilder waren immer noch da, aber nun lag außerdem ein schmaler schwarzer Lederkoffer darin.
Dawn setzte sich im Schneidersitz davor und nahm den Koffer auf ihren Schoß. Sie entdeckte die Initialen ihrer Großmutter. Gold auf dunklem Blau.
„Sieh mal.“
Ben hockte sich neben sie. „Verschlossen?“
Sie fischte nach ihrem Schlüssel. Das Schloss ließ sich ebenso leicht öffnen wie die Tür. Der Koffer enthielt ein schwarzes, in Leder gebundenes Tagebuch. Die Seiten waren mit Goldschnitt versehen, wie eine Bibel. Auf der ersten Seite erschien ein mit Tinte geschriebener Eintrag. Runde, sorgfältige Buchstaben. Ein winziger Tintenfleck war kindlich in eine kleine Spinne verwandelt worden.
Sie war verwundert, aber als sie halbwegs mit dem Lesen der Seite fertig war, begriff sie, wem dieses Buch gehört hatte. „Ben, das ist Onkel Hughs Tagebuch! Ich wusste nicht einmal, dass er Tagebuch geschrieben hat.“
Sie schaute hoch und sah, wie Bens Augen sich verdunkelten. „Ich habe mich schon gefragt, was damit passiert ist.“
„Dann wusstest du davon?“
„Ich habe in jenem letzten Sommer bei ihm gewohnt und ihn manchmal Tagebuch schreiben sehen. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zum Pfarrhaus zurückkehrte,habe ich danach gesucht. Aber da war schon alles weg.“
Sie blätterte in dem Buch. „Es beginnt, als er zehn war. Und sieh mal – es ist fast voll. So als ob …“
„So als ob sein Leben mit diesen Seiten aufhörte.“
Sie wollte nicht daran denken. „Da ist noch mehr.“ Dawn legte das Tagebuch beiseite und holte eine lavendelfarbene Metallkiste heraus, die mit Stiefmütterchen und Veilchen verziert war. Darin befand sich ein dickes Briefbündel, das mit einer schwarzen Schleife zusammengehalten wurde.
Die Briefe waren ausgeblichener als das Tagebuch. Das dämmrige Licht zwang Dawn, die Augen zusammenzukneifen, damit sie die Worte entziffern konnte. „Der hier ist an Pater Grimaud adressiert. Sieh mal, es ist Französisch.“
Er kniff ebenfalls die Augen zusammen. „Ich habe Latein studiert.“
„Mein Französisch ist ganz akzeptabel.“
„Phillip spricht perfekt Französisch, falls du einen Übersetzer brauchst. Wo kommen die Briefe her?“
Sie betrachtete die Rückseite des ersten Briefs. „Lucien Le Danois.“ Sie schaute Ben ins Gesicht. „Er war mein Urgroßvater.“
„Aber was hat das alles mit mir zu tun?“
Dawn hatte bisher keine Zeit gehabt, sich diese Frage zu stellen, und nun stellte sie fest, wie wichtig sie war. „Ich weiß es nicht. Was glaubst du?“
Er hob die Achseln.
Dawn drückte die Briefe an sich. „Falls Grandmère gewollt hätte, dass nur ich sie haben sollte, hätte sie mir beide Schlüssel vermacht. Oder sie hätte sich die Mühe mit den Schlüsseln gespart. Spencer hätte mir gleich heute Morgen auf der Veranda den Koffer ausgehändigt. Fällt dir etwas auf? Sie wollte offenbar, dass wir zusammenarbeiten.“
„Mit welchem Recht sollte ich deine Familiengeschichte erforschen?“
„Keine Ahnung. Hast du eine Idee?“
„Ich hatte noch keine Zeit, eine zu entwickeln.“ Er wirkte ratlos. „Was willst du jetzt machen?“
„Ich werde die Briefe ins Haus tragen und lesen.“ Ihre Blicke trafen sich und einen Augenblick lang herrschte ratloses Schweigen. Dann hielt sie ihm das Tagebuch ihres Onkels hin.
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