Gefahrliches Vermachtnis
irgendetwas zu beurteilen. Ich dachte einfach nur, dass du vielleicht mit jemandem reden willst.“
„Und wie kamst du auf die Idee, dass du dieser jemand bist?“
„Die Anzahl möglicher Kandidaten ist recht übersichtlich. Und schließlich waren wir mal Freunde.“
„Das mit den Freunden glaube ich nicht.“
Erstand auf. „Die Anzahl möglicher Kandidaten ist trotzdem begrenzt.“
Sie fuhr fort, Fotos zu sortieren. „Willst du mit jemandem sprechen? Hast du im Tagebuch meines Onkels irgendwas entdeckt?“
„Keine großen Enthüllungen. Seine Schrift ist sehr klein und blass, und es kostet Mühe, sie zu entziffern. Bis jetzt habe ich nur mehr über das katholische Schulsystem in New Orleans erfahren, als ich je wissen wollte. Und über Pater Hughs Bemühungen, Klassenbester zu sein.“
„Er war immer der Beste. Egal, was er tat.“
„Aber er hat hart dafür gearbeitet und offenbar mit Vergnügen. Er war beinahe fanatisch loyal zu seiner Familie, und er wollte, dass sie stolz auf ihn war. Ich glaube, er vergötterte seine Mutter. In der Art, wie er schrieb, liegt eine große Bewunderung für sie.“
„Und die anderen? Mein Vater? Sein Vater?“
„Er hatte Angst vor seinem Vater, glaube ich. Und deinen Vater hielt er für eine Nervensäge. Ich bin gestern Nacht aber vor seiner Pubertät eingeschlafen. Die kommt erst noch.“
„Tja, ich glaube, ich habe die interessantere Geschichte erwischt. Wer hätte gedacht, dass diese Briefe uns so weit bringen würden?“
„Und was hältst du jetzt von deiner Großmutter?“
„Ich weiß nicht. Einerseits verstehe ich, was sie getan hat. Sie war alleine und verängstigt und sie war ein Opfer ihrer Zeit. Wenn sie Nicky ansah, hat sie in ihr vermutlich den Mann gesehen, der sie aus ihr damals noch unbekannten Gründen betrogen hatte.“
„Andererseits kannst du dir nicht vorstellen, wie eine Frau ihr eigenes Baby hergeben konnte.“
„Ausgerechnet dem Mann, dem sie so misstraute? Nein. Glaubst du, sie hat bei aller Wut trotzdem gespürt, dass er gut auf ihr Kind aufpassen würde? Oder denkst du, dass sie so verzweifelt war, dass sie Nicky wie einen Sack Kartoffeln hergegeben hat?“
„Was meinst du?“
„Ich weiß es nicht, und das stört mich, denn ich habe immer an meine Großmutter geglaubt.“
„Denkst du, es gibt noch mehr Enthüllungen?“
„Wir haben noch Zeit.“
Er kniete sich neben sie auf den staubigen Boden und hob ein Foto vom Stapel. „Was machst du da eigentlich?“
„Ich suche nach Antworten.“
„Und nach welchem Prinzip sortierst du die Fotos?“
„Hier sind die Menschen, die ich kenne, und dort die Unbekannten.“
„Wer ist das?“
Sie schielte auf das verblichene Foto und lachte. „Weißt du das nicht?“
Er liebte ihr Lachen. Es erinnerte ihn an vergangene Nächte und an eine Frau mit weniger Kanten. Er betrachtete das Foto genauer. „Pater Hugh? Mit was … fünfzehn oder so? Und wer noch? Dein Vater?“
„Mein Vater ist der mit dem dicksten Fisch. Wie üblich.“
„Deine Ähnlichkeit mit Pater Hugh ist mir noch nie so aufgefallen.“
„Vielleicht warst du zu viel mit unseren Differenzen beschäftigt.“
„Du nutzt auch jede Gelegenheit, oder?“
„Das habe ich von meinem Vater gelernt, dem König aller Raubtiere.“ Sie drückte ihm ein anderes Foto in die Hand. Dem etwas älteren Hugh sah sie noch ähnlicher. „Mein Vater hat immer gesagt, dass er Hugh – Priester hin oder her – auf jeden Fall erschossen hätte, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass Hugh zur Zeit meiner Zeugung nicht im Land war.“ Sie reichte Ben noch ein Foto. „Das ist mein Großvater Henry Gerritsen und das da neben ihm ist meine Großmutter.“
Ben starrte auf die beiden ernsten Erwachsenen. Aurore Gerritsen hatte die schmalen Hüften einer Frau, die noch kein Kind geboren hatte. Inzwischen wusste er, dass der Eindruck täuschte. Außerhalb des Fotos wuchs irgendwo ein kleines Mädchen ohne seine Mutter auf.
„Ich glaube nicht, dass ich je ein Foto meiner Großeltern gesehen habe, auf dem Grandmère lächelt. Siehst du, wie er die Hand auf ihre Schulter gelegt hat? Es sieht fast so aus, als würde er sie gewaltsam festhalten.“
„Was glaubst du, wann das Foto aufgenommen wurde?“
„Ziemlich am Anfang ihrer Ehe. Ihr Haar ist noch lang, siehst du? Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sich nach der Geburt meines Vaters einen Bob schneiden ließ. Sie gehörte zu den Ersten in New Orleans, die das gemacht haben,
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