Gefahrliches Vermachtnis
und mein Großvater hatte sie dafür mehrere Wochen in ihrem Zimmer eingeschlossen.“
Ben hatte aus Pater Hughs Tagebuch geschlossen, dass Henry Gerritsen keine gute Wahl für eine Frau wie Aurore gewesen war. „Netter Kerl“, sagte er vorsichtig.
„Offenbar nicht. Ich habe viele Gerüchte gehört. Kleine, in meiner Gegenwart geäußerte Kommentare. Er war ein Spieler und er trank zu viel. Außerdem gehörte er zu der Art von Geschäftsleuten,denen man nicht den Rücken kehren sollte. Er hatte die grandiose Idee, in die Politik zu gehen, und wollte Louisiana im Sturm erobern.“ Sie hob die Achseln. „Ich vermute, dass mein Vater sein Interesse für die Politik von ihm geerbt hat. Sein Vater arbeitete unermüdlich hinter den Kulissen. Ich glaube, er gehörte während der Zeit von Huey Long sogar zu einem wichtigen Komitee. Phillip sagte, meine Großmutter hätte Henry Gerritsen geheiratet, weil sie Hilfe mit der Reederei benötigte. Ich kann mir vorstellen, dass sie diese Entscheidung bereute.“
„Erinnerst du dich an ihn?“
„Ich bin mir nicht sicher. Er starb, als ich klein war. Aber manchmal …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber mit den Genen, die ich geerbt habe, kann ich nur hoffen, dass diese Seite sich nicht durchsetzt.“
„Erzähl mir von deiner Kindheit.“
Sie hob den Kopf. „Warum?“
„Weil du das noch nie gemacht hast. Jedenfalls nicht richtig. Und jetzt, wo ich in die Familiengeschichte der Gerritsens geraten bin, wüsste ich gerne mehr, um sie besser zu verstehen.“
„Ich habe nie über meine Kindheit gesprochen, weil du mir nie zuhören wolltest.“
„Du sagst doch, dass Menschen sich ändern können.“ Er hielt ihr ein Foto hin. „Das bist du, stimmt’s? Mit deiner Mutter?“
„Ich hasse dieses Bild.“
„Warum?“
„Weil es gelogen ist. Sieh es dir an.“ Sie nahm ihm das Foto aus der Hand und hielt es hoch wie ein Beweisstück. „Die perfekte Mutter mit ihrer Tochter in ordentlichen blauen Segelkleidern und praktischen Lederschuhen. Ich habe eine rote Schleife im Haar und Mutter hat ihr Haar mit einem roten Band zurückgebunden. Was soll uns das Foto sagen? Dass wir uns ähnlich sind? Wie gut wir harmonieren?“
„Vielleicht sagt es aber auch nur, dass ihr Mutter und Tochter seid.“
Sie schleuderte das Foto in die Truhe zurück. „Ich glaube, Vater hat es für eine seiner Kampagnen aufnehmen lassen.“
„Heute Morgen habe ich das Gesicht deiner Mutter beobachtet, als sie deinen Vater aus dem Raum manövrierte. Ich hab das Gefühl, sie braucht dein Verständnis und deine Unterstützung.“
„Wie Bauchschmerzen.“
„Warum hasst du sie so?“
„Ich hasse sie nicht. Sie bedeutet mir nur nichts.“
„Deine Wut ist aber bedeutend.“
„Weißt du, es ist sehr komisch, dass ausgerechnet du das sagst. Ich hab dich noch nie über Gefühle sprechen hören. Übst du schon mal mit den Gefühlen anderer?“
Ben streckte seine Beine aus. „Über Gefühle zu sprechen, galt in meiner Familie als so etwas Ähnliches wie Tanzen oder Trinken – so etwas taten nur die Ungläubigen.“
„Und wann hast du damit angefangen, zu tun, was du willst?“
„Seit mir eine Frau die Augen für die Wahrheit geöffnet hat.“
„Oh bitte!“
„Nicht du, Dawn.“
„Natürlich nicht“, sagte sie nach einer Weile. „Ich hätte es wissen müssen. Ich würde dich ja nicht einmal dazu bringen, deine eigene Nasenspitze zu sehen.“
„Ich wünschte, du wärst lange genug bei mir geblieben, um es auszuprobieren.“
Sie wandte ihren Blick ab. „Dafür war ich nicht verantwortlich.“
„Bist du deshalb weggegangen? Weil du dich weder für mich noch für uns verantwortlich fühltest?“
„Nein. Es war viel einfacher: Ich bin weggelaufen, weil ich nicht darüber nachdenken wollte, was mit Onkel Hugh passiert ist oder was ich vielleicht hätte tun können, um es zu verhindern. Ich habe ihn geliebt.“
Er wollte sie berühren und bemühte sich, seiner Stimme einen tröstlichen Tonfall zu verleihen. „Das weiß ich.“
„Ich habe mein Herz ein Jahr lang gründlich erforscht – seit dem Moment, als Onkel Hugh starb. Bist du jemals auch nur für eine Minute in dich gegangen? Hast du dich jemals gefragt, ob du irgendetwas aus dem gelernt hast, was Onkel Hugh versuchte, dich zu lehren?“
„Du hast das Nachdenken nicht gepachtet.“
Sie räumte die Fotostapel wieder in die Truhe zurück und bewegte sich dabei wie ferngesteuert. Dann erhob sie sich.
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