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Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Titel: Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
Autoren: Hera Lind
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direkt an unserem Laden vorbei.
    »Nee, nee, das ist ein außergewöhnlich schlimmer Unfall. Alles andere nehmen sie hier in Reutlingen an.« Ralf Meerkötter schüttelte betrübt den Kopf. »Ich mach mal kurz Pause. Kriegen Sie das mit der Lieferung allein auf die Reihe?«
    »Klar doch, Chef!«, sagte ich. »Machen Sie sich um den Unfall nicht zu viele Gedanken. Es betrifft uns ja nicht.« Nach diesen Worten widmete ich mich wieder dem Falten und Einsortieren der Kinderhosen und hing meinen Gedanken nach.
    Bis mich die Türglocke des Ladens aufschreckte. Vor mir standen zwei Polizisten.
    »Frau Wolf?«
    »Ja?« Mein Herz hämmerte. Die beiden sahen nicht so aus, als wollten sie Kinderkleidung kaufen. In ihren ernsten Gesichtern stand tiefes Mitgefühl.
    Mir wurden die Knie weich. Bitte nicht, lieber Gott. Bitte nicht!
    »Ihr Sohn Bernd hatte einen schlimmen Verkehrsunfall«, sagte der Ältere so sachlich wie möglich.
    Mein Bernd. Mir sackten die Beine weg. Automatisch ließ ich mich auf die Leiter hinter mir sinken. Mein Mund war völlig ausgetrocknet.
    »Was ist passiert?«
    »Er ist mit dem Fahrrad in die Straßenbahnschienen geraten und von einer Straßenkehrmaschine erfasst worden. Ihr Sohn wurde über zwanzig Meter auf den Schienen mitgeschleift.«
    Ich spürte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich.
    Sofort kam Ralf Meerkötter aus seinem Büro im hinteren Ladenteil. »War das das Martinshorn vorhin?«
    Der Polizist nickte. »Ja. Ihr Sohn konnte in Reutlingen nicht operiert werden. Sie haben ihn in die Unfallklinik nach Tübingen gebracht.«
    Mein Bernd war also der »besonders schwere Fall«, der »arme Teufel«, mit dem wir heute Morgen Mitleid gehabt hatten?
    »O Gott«, brachte ich mit Mühe hervor. »Nicht mein Bernd.« Nicht nach allem, was war! Wie durch Watte fühlte ich Ralf Meerkötters Hand auf meiner Schulter.
    »Ist er … bei Bewusstsein?«, hörte ich seine Stimme wie aus weiter Ferne.
    »Der Junge stand unter Schock, als er unter der Straßenkehrmaschine hervorgeholt wurde«, fuhr der Polizist fort. »Er rief immer wieder: ›Meine Zähne, meine Zähne!‹«
    Ich schlug die Hände vors Gesicht, um nicht laut zu schreien.
    »Seine Oberlippe wurde komplett weggerissen«, murmelte der Beamte tief betroffen. »Es wird eine größere Transplantation vorgenommen, soviel ich weiß, haben sie vom Gesäß … «
    Nein, das stimmt alles nicht. Das war bloß ein schlimmer Albtraum. Mein armer Bernd.
    »Ist er … Kann ich?« Ich musste würgen, konnte unmöglich weitersprechen. Ralf Meerkötter reichte mir ein Glas Wasser, das ich zitternd an die Lippen hielt. Ich verschüttete die Hälfte davon.
    »Nein«, schrie ich verzweifelt. »Nein, nicht mein Bernd!«
    Es reicht jetzt mit Schicksalsschlägen!, dachte ich. Warum schleckt der Junge da vorn ein Eis, und meiner hat kein Gesicht mehr?
    Ich heulte wie ein verwundetes Tier.
    »Es tut uns so leid, Frau Wolf!«
    Ich versuchte aufzustehen, war aber mit der Leiter verwachsen. Die Stimmen der Polizisten erreichten mich nur bruchstückhaft. »Seit vier Stunden in Tübingen operiert. Das ist im Moment alles, was … «
    Ich weiß nicht, wie lange ich noch brauchte, um die Hiobsbotschaft zu erfassen.
    Ralf Meerkötter rief meine beste Freundin Gitta an, und kurz darauf stand sie leichenblass da und fuhr mich mit dem Wagen nach Tübingen. Kopflos rannten wir zur Notaufnahme.
    Man ließ uns aber nicht zu Bernd. Er wurde immer noch operiert. Man konnte uns noch nichts sagen. Wir saßen die ganze Nacht im Gang.
    Bis wir die Nachricht erhielten, dass Bernd die schwere Operation überstanden hatte.
    Als ich meinen kleinen Jungen dort liegen sah, den Kopf bandagiert, Arme und Beine eingegipst, grün und blau am ganzen Körper, konnte ich einen Entsetzensschrei nicht unterdrücken. Die ganze Nacht lang hatte ich mir vorgestellt, wie er wohl aussehen würde, aber so einen Anblick hatte ich mir nicht ausmalen können. Von meinem fröhlichen Bernd war nur noch ein Häufchen Elend übrig. Er hing an Schläuchen und Apparaten, die Angst machten. Die mitleidigen Blicke der Ärzte und Krankenschwestern sprachen Bände. Acht Stunden hatte die Operation gedauert. Aus seinem Gesäß hatte man Hautpartien transplantiert. Aber das war erst die erste Notoperation gewesen, viele weitere würden folgen. Bernd würde für immer entstellt sein. Mich schüttelte ein Weinkrampf. Ich hatte so viel mitgemacht, so viele Ängste ausgestanden, so viele Schläge eingesteckt, Hunger gelitten,
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