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Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)

Titel: Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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sogenannte Schwedenessen. Das war eine Schulspeise, die von der schwedischen Bevölkerung gespendet wurde. Ohne das Schwedenessen hätten wir Kinder die Nachkriegsjahre wohl nicht überlebt.«
    Ich warf Jürgen einen verständnisvollen Blick zu, hütete mich aber, ihn zu unterbrechen. Wir wussten beide, wie sich Hunger anfühlt, und so sahen wir heute noch aus. Auch Jürgen war viel zu dünn.
    »Nach der Schule habe ich bei einer Schiffsausrüstungsfirma als Lehrling angefangen.« Jürgen schaute ins Leere. »Dort mussten wir Schwerstarbeit verrichten. Unsere Arbeit bestand darin, verrostete Ketten zu säubern. Später bin ich sogar auf einem kleinen Küstenmotorschiff mitgefahren, durch Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland.«
    Ich sah Jürgen mitfühlend an. »Das war vermutlich kein Traumschiff.«
    Er lächelte schwach. »Nein, das war die Hölle. Die Kälte schnitt uns in die Hände, und unsere Gesichter waren voller Frostbeulen. Nachts hatten wir vier Stunden Ruderwache, und selbst wenn wir dann in den klammen Kajüten lagen, vorne am Bug, wo immer das Packeis drandonnerte, konnte man kein Auge zutun. Damals war ich so abgemagert, dass alle dachten, ich hätte Krebs.«
    Ich wischte mir verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Hastig zündete ich mir eine neue Zigarette an und hüllte mich in Rauch.
    Jürgen sah mich ungläubig an. »Weinst du etwa? Meinetwegen?«
    »Quatsch!« Krampfhaft versuchte ich, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen.
    »Ich kann dir auch noch was Lustiges erzählen!« Jürgens Augen bekamen Lachfältchen.
    »Seemannsgarn?«, fragte ich so beiläufig wie möglich.
    »Alles wahr.« Etwas an seinem durchdringenden Blick sorgte dafür, dass ich weiche Knie bekam.
    »Unser Steuermann war mal in Bremerhaven in einem zwielichtigen Viertel unterwegs und wollte sturzbetrunken mit einem Freudenmädchen aufs Schiff. Ich hatte Nachtwache und stand fröstelnd am Bug. Es war gerade Ebbe, und die beiden Schnapsdrosseln mussten über eine an der Kaimauer angebrachte Eisenleiter zum Schiff hinuntersteigen.«
    Ja, diese rutschige Hühnerleiter konnte ich mir bildlich vorstellen.
    »Unser Steuermann war das gewohnt, aber das Freudenmädchen fiel zwischen Kaimauer und Schiff ins eiskalte Wasser.«
    Schaudernd zog ich die Schultern hoch.
    »Der Steuermann taumelte einfach in seine Kajüte und pennte sofort ein, während die Dame des horizontalen Gewerbes in dem Eiswasser um ihr Leben paddelte. Sie schrie um Hilfe, und ich reichte ihr einen langen Stock, an dem sie sich über Wasser halten konnte. Aber sie erreichte weder die unterste Sprosse der Eisenleiter noch die Strickleiter zu unserem Schiff. Beides lag etwa drei Meter über dem Wasserspiegel.«
    »Und? Hast du sie gerettet?«, krächzte ich ängstlich.
    »Inzwischen waren meine Kumpel von dem Geschrei aufgewacht und warfen ihr Seile zu. Sie klammerte sich daran, und wir zogen mit vereinten Kräften, als wir bemerkten … « Jürgens Mundwinkel zuckten, und er unterdrückte ein Lachen.
    »Was? Was habt ihr bemerkt?« Gespannt starrte ich ihn an und vergaß ganz das Rauchen.
    »Na ja, es war wie in einem Horrorfilm. Plötzlich fiel ihr Bein ab.«
    » WAS ?« Mir wurde ganz übel. Das war wirklich Seemannsgarn, oder?
    »Ja. Sie hatte ein Holzbein, das sich in den grauen Wellen von dannen machte. Die Frau hing am Seil und versuchte sich festzuhalten, aber erstens war sie zu schwach und zweitens betrunken. Drittens besaß sie nun endgültig kein Gleichgewicht mehr. Immer wieder plumpste sie in die eiskalte Drecksbrühe zurück, während das Bein beschloss, nach Übersee zu schwimmen.« Er schüttelte belustigt den Kopf.
    Ich wusste nicht, ob ich lachen oder ihn nur fassungslos anstarren sollte.
    »Irgendwann haben wir die Frau da rausgezogen und auf die Planken gelegt. Wir haben sie so gut es ging abgetrocknet, aber sie musste ja nun mal irgendwann nach Hause.«
    »Mit einem Bein.«
    »Eben. Das war das Problem. Wir wollten ablegen, mussten aber die Dame vorher heil an Land kriegen. Unser Steuermann hat das alles verpennt. Wir haben die Gute dann auf eine Palette gelegt, mit der wir sonst Kisten und Säcke an Deck schafften, sie darauf festgebunden und mit dem Kran an Land gehievt.« Jürgen beendete seine Geschichte mit einem amüsierten Schmunzeln. »So. Und jetzt bist du wieder dran.« Er rutschte ein Stück näher an mich heran und legte seinen Arm auf meine Stuhllehne. Dabei glitt seine Hand wie zufällig über meinen Rücken. Wie

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