Gefangen in Afrika: Roman nach einer wahren Geschichte (German Edition)
und brachte sie eigenhändig zum Bus. Es war ein staubiger gelber Bus, der unter dem einzigen Schatten spendenden Baum auf einer Art rotem Dorfplatz wartete. Es dauerte Stunden, bis alle Kinder drinsaßen. Ihre Eltern waren zum Teil richtig sauer auf Willem, warfen mit Steinen nach ihm oder spuckten fluchend vor ihm auf dem Boden aus. Ich bewunderte ihn für seinen Mut.
»Bildung ist das A und O«, murmelte er wild entschlossen, als er dem Fahrer das Zeichen zur Abfahrt gab. »Das sind wunderbare Menschen, die mir am Herzen liegen. Und wenn sie es jetzt noch nicht einsehen, werden sie mir in zehn Jahren dankbar sein!«
Ich war ihm jetzt schon dankbar. Dass meine Söhne und ich so etwas hatten erleben dürfen! Diese Farm war mehr als ein überdimensional großer Abenteuerspielplatz. Ich wurde nachdenklich. War es in Ordnung, dass Leo Windhoek seinen Stempel aufdrückte? Dass er die Stadt prägte und nicht ihre ursprünglichen Einwohner? Willems Demut und Hilfsbereitschaft waren mir da deutlich näher. Meinem Leo ging es nur ums Geld – Willem um die Menschen.
Das habe ich bei diesem Besuch bei Willem und Carola begriffen.
19
Zurück in Windhoek holte uns der Alltag schnell wieder ein.
Die Kinder gingen zur Schule, wo sie allerdings eine Art Ausländerfeindlichkeit aus den eigenen Reihen erfuhren: Da sie nicht in Südafrika geboren waren, wurden sie als »Jerrys« beschimpft. Wie bei den Schwarzen in ihren Townships gab es auch bei den Weißen in ihren Villen Stammesfehden, dachte ich traurig. Besonders mein kleiner Thomas litt darunter, wenn ihn die »eingeborenen« Weißen wegen seines fehlerhaften Afrikaans mit schwäbischem Akzent hänselten. Bernd war inzwischen schon im Stimmbruch und setzte sich auf seine Weise durch. Außerdem hatte er seine Freundin Claudia, die ihm das Gefühl gab, anerkannt zu sein. Die Zwölfjährige schrieb ihm hinreißende Liebesbriefe, versehen mit wunderbaren Zeichnungen von Tigern und Löwen, Giraffen und Zebras. Bernd besitzt sie heute noch – er hat sie alle aufgehoben.
»Mama, wann gehen wir wieder zurück nach Deutschland?«
Thomas kam traurig zu meinem Liegestuhl, wo »Missis schlafen« angesagt war.
»Aber Liebling, wie kommst du denn darauf?«
»Mir ist so langweilig!«
»Aber nein, mein Schatz, hier hast du doch alles, was ein Jungenherz begehrt!«
»Aber nicht meine Freunde aus Reutlingen!«
»Ach du, lass uns jetzt nicht über Deutschland nachdenken … « Dort war jetzt bald wieder Weihnachten. Aus Briefen von Gitta und Walter wusste ich, dass es schon dick geschneit hatte. Der Weihnachtsmarkt von Reutlingen erstrahlte schon wieder in seinem Glanz. Ich sah mich an Tante Emmis Hand durch den Schnee stapfen und meine ersten gebrannten Mandeln essen. Ich sah mich in der Kirche stehen und die Krippe bewundern. Ich sah mich mit ihr im Kino sitzen und »Vom Winde verweht« sehen. Nun war ich selbst »vom Winde verweht«.
Hastig blinzelte ich die Tränen weg und musste mir eingestehen, dass ich schreckliches Heimweh nach Hause hatte.
»Ich muss aber an Opa und Oma denken!«, jammerte mein Thomas und schmiegte sich an mich. »Die sind jetzt ganz allein, und bald ist Weihnachten … «
Oje. Jetzt Missis weinen. Ich suchte hastig nach einem Taschentuch, fand aber keines. »Opa und Oma schreiben wir nachher einen langen Brief, ja? Papa hat so viel zu tun, dass wir jetzt nicht nach Hause können. Und den können wir an Weihnachten auch schlecht alleine lassen.«
Thomas hörte nicht auf zu schniefen.
»Ach, Liebling!« Entschlossen stand ich auf. »Jetzt unternehmen wir sofort was gegen Heimweh und Langeweile.«
»Was denn?«
»Wir springen jetzt vom Dach in den Swimmingpool.«
»Was?« Das Gesicht meines Kindes klarte auf wie ein Apriltag nach dem Regen. »Echt? Traust du dich?«
»Ja, klar! Du etwa nicht?« Gemeinsam rannten wir hinauf auf den Balkon und machten zu Onas grenzenlosem Entsetzen eine »Arschbombe« ins Wasser.
»Missis verrückt geworden!« Ona bekreuzigte sich und rief Jesus, Maria und Josef an. »Warum das machen!?«
»Ist gut gegen Heimweh!« sagte ich lachend, und dann machten wir das Ganze gleich noch einmal.
An diesem Nachmittag gelang es mir noch, den schleichenden Virus Langeweile gepaart mit akutem Heimweh zu vertreiben. Später gelang mir das immer seltener.
Ich musste etwas tun. Missis wollte nicht mehr liegen, ruhen, lesen und schwimmen.
Missis wollte wieder arbeiten.
Als Leo das nächste Mal nach Hause kam, sprach ich ihn mit
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