Gefangen in der Schreckenskammer
Angst zu machen. Ich könnte meine
Mitmenschen auch mit Grimassen erschrecken, ihnen aufgespießte Spinnen mit der
Post zusenden oder am Telefon Drohungen ausstoßen. Aber bei mir ist es
schlimmer. Das Böse in mir befiehlt, auf Lebewesen zu schießen. Auf Tiere
und... äh... hm... Bin ich wahnsinnig, Herr Tickel?“
„Keineswegs! Nur fehlgeleitet. Ich
zeige Ihnen, wo es lang geht. Zwar werden wir noch lange miteinander zu tun
haben. Aber eines Tages sind Sie gesund, frisch, fröhlich — ein freier Mensch.
Was war denn nun heute abend?“ Lambster schloß die Augen. Aber auch hinter
geschlossenen Lidern lauerten die entsetzlichen Bilder.
„Es war schon dunkel. So gegen sieben.
Ich hatte meine Waffen geputzt. Oft, wissen Sie, stelle ich mir vor, mein Haus
wäre ein Fort (militärische Befestigungsanlage) und von Rothäuten
belagert. Die wollen meinen Skalp (Kopfhaut). Aber den werde ich so
teuer wie möglich verkaufen. Das verstehen Sie, nicht wahr? Und das ist doch
ein völlig normales Verhalten! Jedenfalls postierte ich mich vorhin im
Obergeschoß am Dachfenster. Mein Kleinkaliber-Gewehr halte ich in den Händen.
Jetzt können sie kommen, die verdammten Rothäute. Einen heißen Empfang, jawohl,
werde ich ihnen bereiten.“
Dieser Idiot! dachte Tickel. In der
Wüste sollte man ihn aussetzen. Aber selbst dort würde er Unfug anstellen.
„Wegen der Dunkelheit“, flüsterte
Lambster, „habe ich das Zielfernrohr aufs Gewehr geschraubt. Ein Nachtglas.
Damit kann man auch bei Nacht gut sehen.“
Tickel nickte. Sein Blick fiel auf das
rotlederne Adreßbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag: sein privates
Telefonverzeichnis. Auch Lambsters Rufnummer stand drin.
„Immer stärker, Herr Tickel, spüre ich
also den Drang zu schießen. Jawohl, ich weiß, daß ich’s tun muß. Mit dem Gewehr
an der Backe spähe ich durchs Zielfernrohr. Ich suche den Park ab. Den Park vor
meinem Grundstück. Aus meiner erhöhten Lage kann ich durch winterkahle Bäume in
die Spazierwege einsehen. Aber der Park ist leer. Nein, nicht ganz. Dort...
kommt eine... nein, keine Rothaut. Ich bin ja nicht blöd. Ich weiß, wo ich lebe.
Den Bezug zur Wirklichkeit habe ich nicht verloren. Es ist ein Mädchen, das da
kommt. Ein Mädchen mit seinem Hund. Aber es juckt mich in den Fingern, ihr die
Mütze vom Kopf zu schießen.“ Tickel sah ihn an. Sein Lächeln war noch da. Aber
es strahlte nicht mehr.
„Ich bin ein guter Schütze“, fuhr
Lambster fort. „Ich könnte die Bommel von ihrer Mütze schießen. Und ich habe
schon den Finger am Drücker. Aber ein Fehlschuß... würde sie das Leben kosten.
Deshalb, ja, habe ich... aus kühler Überlegung und weil ich Verantwortung
besitze... habe ich also ganz dicht an ihr vorbei geschossen. Snnniiirrrsch! In
den Baum. Das Mädchen hat’s gemerkt und ist zusammengezuckt.“
„Lambster! Wenn das jemand beobachtet
hat! In Teufelsküche bringen Sie sich.“
„Ich weiß.“
„Sie dürfen nicht auf Menschen
schießen. Auch nicht dicht vorbei.“
„Ich weiß. Werden Sie mich anzeigen bei
der Polizei?“
„Nein. Natürlich nicht.“
„Ich... äh... also, es kommt noch
schlimmer.“
Tickel lehnte sich zurück und stellte
die Füße ordentlich nebeneinander. Er mußte aufpassen, daß er entspannt blieb.
„Wie ich schon erwähnte: Das Mädchen
hatte einen Hund. Gerade als ich schoß, ließ sie den Köter von der Leine. War
so’n Boxer, glaube ich. Der sauste gleich los — ab in die Büsche. Und da...
äh... wurde der Jäger in mir wach. Der Hund — das war jetzt ein Puma, ein
Coyote, ein Wolf. Auf einer Lichtung hinter dichtem Gestrüpp hat er den Boden
beschnüffelt. Ich zielte. Und... snnniiiirrrsch!... saß ihm die Kugel im Kopf.
Ein erstklassiger Schuß. Buffalo-Bill (Westernheld) wäre stolz darauf
gewesen.“
Tickel glotzte. „Eigentlich, Lambster,
müßte ich mit Ihnen schimpfen.“
„Der Coyo... der Hund brach im Feuer
zusammen. War sofort tot.“
„Das macht die Sache nicht besser. Zwar
hat der Hund nicht gelitten. Aber es ist und bleibt eine schlimme Tat.“
Lambster senkte den Kopf und zog die Achseln hoch, als erwarte er eine
Ohrfeige.
„Immer wieder frage ich mich, Herr
Tickel, weshalb ich so bin? Weshalb will ich anderen Angst einjagen — heimlich?
Weshalb will ich auf Menschen schießen? Weshalb schieße ich auf den Hund? Ich
mag Hunde nicht besonders. Aber sie sind auch nicht meine Feinde. Wie die... äh...
Rothäute. Und die Banden der Pferde- und
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