Gefangen in Deutschland
Geschichte der letzten Jahre herunter. Als ich geendet hatte, sah ich, dass Rita die Tränen über die Wangen liefen.
Ich war über diese Reaktion zutiefst erschrocken. Zu dem Zeitpunkt war ich selbst schon so abgestumpft, dass ich gar nicht begreifen konnte, wie jemand solch eine Anteilnahme für mich empfinden konnte.
»Wie kannst du das alles nur ertragen? Warum versuchst du nicht zu fliehen?«, fragte Rita mich schließlich, nachdem sie sich gründlich die Nase geschnäuzt hatte.
»Ganz einfach, Rita: weil er mich finden und töten würde, egal wo ich mich verstecken würde«, antwortete ich so ruhig, wie es mir möglich war. »Ich müsste immer in der Angst leben, dass er mich entdecken würde. Ich könnte meine Familie nicht mehr besuchen. Weder meine deutsche noch meine türkische.«
Ritas Blick ruhte eine ganze Weile auf mir, ehe sie sich erhob, um mich stumm zu umarmen. Sie hatte verstanden.
Bereits an meinem vierten Arbeitstag bahnte sich die nächste Katastrophe an. Bisher war ich immer der Frühschicht zugeteilt worden. Dies war insofern praktisch, als ich zeitgleich mit Mahmud das Haus verlassen, aber bereits am frühen Nachmittag schon wieder daheim sein konnte. So hatte ich genug Zeit und Muße, die Hausarbeiten zu erledigen und mich den Vorbereitungen für das Abendessen zu widmen. Mahmud bekam auf diese Weise kaum etwas von meiner neuen Berufstätigkeit mit. Natürlich wollte er am Abend immer alles ganz genau von mir erzählt bekommen. Mir war klar, dass dies nicht aus einem echten Interesse an meiner Arbeit heraus geschah, sondern dass er vielmehr darauf wartete, irgendetwas zu finden, das er hätte bemängeln können.
An diesem Tag nun sollte ich das erste Mal in der Spätschicht arbeiten. Mein Chef war am Vortag zu mir gekommen, um mir zu erklären, wie wichtig es sei, dass ich auch mal bei der abendlichen Kassenabrechnung zugegen war. Herr Dittrich selbst wollte mir zeigen, wie diese in seinem Unternehmen durchzuführen sei. Meine mangelnde Begeisterung über seinen Vorstoß war wohl nicht zu übersehen gewesen. Mir war natürlich sofort durch den Kopf geschossen, dass ich dann ja allein mit meinem Chef sein würde. Sollte Mahmud jemals Wind davon bekommen, würde garantiert wieder der Teufel los sein. Da ich aber meinen neuen Job auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollte, behielt ich meine Bedenken für mich. Was hätte ich denn auch zu meinem Vorgesetzten sagen sollen? Etwa: »Entschuldigung, Sie sind ein Mann – halten Sie bitte mindestens drei Meter Sicherheitsabstand zu mir ein und sprechen Sie mich auf keinen Fall an«? Wahrscheinlich hätte Herr Dittrich mich dann erst einmal auf die Couch geschickt, um mir anschließend die Stelle zu kündigen.
Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mich ein mulmiges Gefühl beschlich, als die anderen Verkäuferinnen am Abend gegangen waren und ich mich allein mit ihm in seinem Büro wiederfand. Bevor wir mit der Abrechnung begannen, fragte er mich, wie es mir denn in der Bäckerei gefalle und ob ich mit meinen Kolleginnen gut zurechtkäme. Ich berichtete ihm, wie herzlich ich von den Frauen aufgenommen worden sei und dass mir die Arbeit wirklich leicht von der Hand gehe. Dann machten wir uns daran, gemeinsam die Tageseinnahmen zu zählen.
Wir hatten gerade alle Geldscheine nach ihrem Wert zu kleinen Häufchen aufgestapelt, als ein lautes Klopfen gegen die Hintertür der Bäckerei ertönte. Der Schreck fuhr mir in die Glieder.
Herr Dittrich, dem mein Zusammenzucken nicht entgangen war, lächelte mir aufmunternd zu.
»Keine Angst, Katja! Das wird schon kein Einbrecher sein! Sicher ist das jemand, der erst nach Ladenschluss bemerkt hat, dass er kein Brot mehr im Haus hat. Die meisten Kunden wissen, dass ich auch lange nach unseren Öffnungszeiten noch im Büro bin, und kommen dann einfach zum Hintereingang.«
Er ging zur Tür, um nachzusehen, wer da geklopft hatte. Mit ernstem Gesichtsausdruck kehrte er zurück.
»Ist dein Freund Türke?«, wollte er von mir wissen.
Fast unmerklich nickte ich mit dem Kopf.
»Dann nimm jetzt mal besser deine Sachen und mach Feierabend! Ich weiß zwar nicht, was bei euch zu Hause los ist, aber dein Freund scheint ziemlich sauer zu sein und verlangt, dass du sofort rauskommst.«
Er hatte kaum seinen Satz zu Ende gesprochen, als wir Mahmud schon in rüdem Ton meinen Namen rufen hörten.
Herr Dittrich, dem meine wachsende Unruhe auch diesmal nicht entgangen war, bot mir seine Hilfe an. Dankend lehnte ich ab
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