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Gefangen

Gefangen

Titel: Gefangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Lim
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wir.
    Wieder spüre ich das seltsame Ziepen, wie einen Stich in meiner Seite, und ich kann fast hören, wie Carmen mich anfleht, ihr das hier nicht zu vermasseln, sie nicht zu billig zu verkaufen in meiner Besessenheit, Lauren zu finden. Einen Augenblick bin ich hin- und hergerissen. Wer als Erstes? Lauren oder Carmen? Für welche von beiden bin ich verantwortlich? Wem soll ich helfen?
    Paul legt eine Hand auf meinen Arm und ich starre überrascht darauf. Ich hatte seine Anwesenheit fast vergessen. „Hast du Lust, nach der Probe mit mir einen Kaffee zu trinken? Ich kann dir ein paar Tipps gehen, wie du mit Gerard fertig wirst. Er ist manchmal ein bissche n … äh m … hartnäckig“, sagt er diskret. „Und vielleicht können wir über deine Karrierechancen sprechen? Ich habe Beziehunge n – besser als alles, was Gerard dir je bieten könnte.“
    Ich gebe keine Antwort und er sagt etwas schärfer: „Hörst du mir überhaupt zu?“
    Nein, er hat Recht, ich höre nicht zu. Ich bin plötzlich taub für seine Worte, weil ich gerade Ryan erspäht habe, der neben der Tür zum Versammlungsraum steht. Seine Augen sagen mir, dass er mich braucht.
    Als ich mich von ihm losreiße, stößt Paul einen Überraschungslaut aus oder vielleicht ist es auch Empörung.
    Hastig dränge ich mich durch den überfüllten Flur in Ryans Richtung und die Leute starren mich an. „Was macht der denn hier?“, höre ich sie tuscheln. „Der war doch schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Schule!“
    Besorgt lege ich meine Hände auf seine Arme. Ich sehe ihm an, dass etwas passiert sein muss. Er hat einen Ausdruck in den Augen, den ich noch nie an ihm bemerkt habe. Als hätte er alle Hoffnung begraben. Als wäre er völlig gebrochen.
    Viele hier sind schockiert über meine Vertrautheit mit Ryan, und die Köpfe schnellen so hastig in unsere Richtung, dass es sich anfühlt wie ein gewaltiger, kollektiver Peitschenhieb. Jetzt haben die Leute noch mehr Grund, über Carmen und ihn herzuziehen, aber das ist mir egal. Sein Blick hat etwas mit mir gemacht. Es ist, als würde mir das Herz brechen.
    „Was ist passiert?“, zische ich atemlos. „Wurde sie gefunden?“
    Meine Berührung reißt ihn aus seiner Verlorenheit, seine Augen werden wieder lebendig, so dunkel, dass sie nur aus Pupillen zu bestehen scheinen. Schock. Er schüttelt den Kopf und sein langes dunkles Haar fällt ihm über die Augen.
    „Nein“, sagt er mit einer seltsam fernen Stimme. „Aber ein anderes Mädchen wurde gerade entführt. In Little Falls. Kommt ganz groß in allen Nachrichtensendungen. Das Mädchen hat auch gesungen, Sopran. Ein bisschen älter. Alles ganz ähnlich wie bei Laurens Entführung. Ist am Wochenende passier t – man wollte es geheim halten, aber die Medien haben Wind davon bekommen. Fast auf den Tag genau ein Jahr später. Die Medien stellen schon eine Verbindung zwischen den beiden Fällen her. Du warst auf der richtigen Spur, Carmen, es hat was mit dem Singen zu tun. Ich hätte nicht so viel auf meinen dummen Traum geben sollen.“ Er schluckt krampfhaft.
    Wir sind von Neugierigen umzingelt, die uns ungeniert mit offenen Mündern zuhören. Ich nehme verschwommen Paul Stenborg wahr, der mit verdrossener Miene an uns vorbei in die Halle geht. Wahrscheinlich findet er mich unhöflich, aber das ist mir egal.
    Carmen kann warten. Die Rivalitäten dieser Kleinstadt-Musiklehrer können warten. Alles kann warten, wenn Ryan mich so ansieht.
    Ich ziehe ihn am Ärmel den Flur entlang und aus dem Gebäude hinaus, damit wir reden können. Das grelle Licht draußen unterstreicht noch seine Blässe, die Ringe unter seinen Augen.
    „Heißt das jetzt, dass sie tot ist?“, fragt er düster und Carmens Herz macht einen Satz. Wie schwer muss es ihm fallen, das auszusprechen!
    Ich weiche der Frage nicht aus, versuche seinen Blick festzuhalten. „Was sagt dir dein Instinkt?“
    „Mein Instinkt sagt mir, dass sie tot ist, dass dieser abartige Scheißkerl genug von ihr hatte und sich was Neues gesucht hat.“ Ryans Stimme versagt, und er wirft sich auf die Treppe eines leeren mobilen Klassenzimmers, das in der Nähe abgestellt wurde. Er legt den Kopf in die Hände und drückt die Finger gegen die Augenhöhlen.
    „Ich fühle nichts“, flüstert er nach langem Schweigen. „Das ist das Problem.“
    Ich muss mich beherrschen, um ihm nicht übers Haar zu streichen. Das ist ein neues Gefühl für mich und es macht mich nervös. Woher dieser ständige Drang, ihn zu berühren?

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