Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
mir alles.«
Seine Züge wurden weich, und er streckte die Hand nach ihr aus – exakt dieselbe Geste, mit der er vor wenigen Minuten noch Jessicas Wange berührt hatte.
» NEIN «, schrie sie und schlug seine Hand fort. »Wage es nicht!«
Sie bückte sich, streifte ihren zweiten Schuh ab und rannte los.
»April!«, rief er. »April!«
»Lass mich in Ruhe!«, schrie sie. Sie spürte die Kälte unter ihren Fußsohlen, Schlamm, der an ihren Beinen hinaufspritzte und den Saum ihres hübschen Kleides beschmutzte. Sie zog es hoch und beschleunigte ihre Schritte, um den See herum und den Hügel hinauf. Sie hatte nur einen Wunsch – nach Hause. Weg von ihm und diesem ganzen Chaos. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können? Wieso war sie auf seine Lügen hereingefallen?
Irgendwann zwang sie das heftige Brennen in ihrer Lunge, stehen zu bleiben. Sie drehte sich um und blickte zurück, um sicherzugehen, dass er ihr nicht gefolgt war. Doch auf den dunklen Rasenflächen und dem baumgesäumten Pfad war niemand zu sehen. Keuchend rannte sie weiter den Hügel hinauf, während die Kälte mit jedem Meter tiefer in ihre zerschrammten Zehen drang. Sie war nicht sicher, wohin der Weg führte, vermutete aber, dass sie nicht allzu weit von zu Hause entfernt sein konnte. Sie presste sich die Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Warum? Warum ich? Wieso muss das alles mir passieren? Ich versuche doch nur, ein guter Mensch zu sein, anderen zu helfen. Und zum Dank kippen sie ihren ganzen Müll über mir aus. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und schüttelte unwillig den Kopf. Vielleicht war ja alles, was Gabriel ihr erzählt hatte, in Wahrheit völliger Blödsinn: die Vampire, die Schüler zu rekrutieren versuchten, ihr Geburtsmal, all das Gefasel von Schicksal und Vorherbestimmung. Vielleicht war all das ja nur ein Teil seines gewaltigen Lügengebildes, und der Vorfall mit dem Messer in Embankment war nur ein mieser Taschenspielertrick gewesen. Hypnose oder so etwas. Außer Gabriels Wort hatte sie nichts in der Hand. Na ja, und Miss Holdens, aber vielleicht war auch sie nur eine seiner Eroberungen. Vielleicht steckten sie ja alle unter einer Decke und hatten es auf sie abgesehen. Inzwischen war sie in ein Areal mit Sträuchern und Blumenbeeten auf der einen und dicken Baumstämmen auf der anderen Seite gelangt, deren kahle Äste sich wie dürre Arme nach ihr auszustrecken schienen. Plötzlich bereute sie es, ihren Schuh nach Gabriel geworfen zu haben.
Aber lustig war es trotzdem , dachte sie bei der Erinnerung an die Verblüffung auf seiner Miene. Ein Laut entfuhr ihr, halb amüsiertes Lachen, halb hysterisches Schluchzen.
»Was ist denn so lustig?«
Aprils Herzschlag setzte aus. Sie wirbelte herum, doch sie war zu langsam. Ein heftiger Schlag traf sie am Ohr und riss sie zur Seite. Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihr Knie, als sie auf dem Boden aufschlug. Wer …? Was …? Sie reckte den Hals. »Gabriel …?«
Zack . Ein zweiter Hieb, diesmal in den Rücken. Sie landete mit dem Gesicht voran auf dem eisigen Asphalt. Sekunden später wurde sie von etwas – ein Knie? – auf den Boden gedrückt. Die Kieselsteine gruben sich in ihre Handflächen. Sie versuchte, sich hochzustemmen, doch das Gewicht drückte sie sofort wieder nach unten.
»Nein, nicht Gabriel«, zischte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. April gefror das Blut in den Adern. Diese Stimme würde sie unter Tausenden wiedererkennen.
»Marcus?«, flüsterte sie ungläubig. Wie kann er hier sein? Wie ist das möglich?
Ein hohes Kichern ertönte. »Und ich hatte schon gedacht, du hättest mich vergessen.«
Marcus packte sie bei den Haaren und riss brutal ihren Kopf nach hinten. »Na, hast du mich vermisst, Häschen?«
»Geh zum Teufel, Marcus«, stieß sie hervor, bereute ihre Worte aber sofort, als Marcus ihren Kopf mit voller Wucht auf den Asphalt knallte. Wieder versuchte sie, sich auf den Rücken zu rollen, doch Marcus packte ihr Handgelenk und begann, sie den Weg entlangzuzerren. Wut stieg in ihr auf. Sie war heute Abend weiß Gott mehr als genug herumgeschubst worden. Mit einer abrupten Bewegung drehte sie sich um und wuchtete sich mit aller Kraft hoch. Zu ihrer Verblüffung löste sich Marcus’ Griff für einen kurzen Moment. Ihr war bewusst, dass ihr nur wenige Sekunden blieben, ehe er sich erneut auf sie stürzen würde. Sie hatte keine Zeit zum Nachdenken oder gar zur Flucht. Er war ein Vampir und sie eine Maus, die einem
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