Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
April hatte Angst. Sie scheute sich nicht, es offen zu zugeben – und ihre Angst hatte nichts damit zu tun, dass Marcus ihr um ein Haar die Kehle herausgerissen hatte. Am schlimmsten war die Gewissheit, dass Marcus gewusst hatte, wer sie war. Dass sie die Furie war – Marcus hatte nicht allzu lange gebraucht, um darauf zu kommen. Schließlich hatte ihr Blut ihn langsam umgebracht. Aber wer wusste sonst noch Bescheid? Hatte er es den anderen erzählt? Hatten die anderen Vamps sein gräuliches, hohlwangiges Gesicht gesehen und eins und eins zusammengezählt? Marcus war nie in Laylas Nähe gekommen, und sie alle hatten gewusst, dass er am Weihnachtsabend Aprils Blut auf dem Friedhof getrunken hatte. Aber hätten die anderen Blutsauger Marcus gesehen, hätten sie ihn nie im Leben davonkommen lassen. Er hatte die schlimmste aller Sünden begangen: Er hatte riskiert, dass sie alle miteinander aufflogen. Wieder erschauderte April und zog ihren Schal noch ein Stück höher. Das Seltsame war, dass ihr die Vorstellung, tot zu sein, wesentlich weniger Angst machte, als gejagt zu werden. Okay, als sie Marcus gegenübergestanden hatte, war sie verängstigt gewesen – sogar regelrecht panisch, aber es war nichts im Vergleich zu ihrer wahnsinnigen Angst gewesen, als er sie in der Nacht des Winterballs auf dem Friedhof verfolgt und angegriffen hatte. Vielleicht entwickelte sie sich ja allmählich zur Vampirkillerin mit Superkräften, die diesen beschissenen Blutsaugern reihenweise in den Hintern trat. Oder sie hatte sich mittlerweile schon daran gewöhnt, regelmäßig von ihnen angegriffen zu werden. Doch diese ständige Anspannung, diese Ungewissheit, das Gefühl, pausenlos beobachtet zu werden, die Furcht, dass hinter jeder Ecke ein mordlustiger Vampir lauerte … Marcus hatte sie wie ein Tier gehetzt, und wäre Gabriel nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen, hätte er sie wahrscheinlich in Stücke gerissen. Gabriel! Dieser verdammte Gabriel!
»Und diese verdammten Männer!«, flüsterte sie. Wie konnte er es wagen, auf seinem weißen Ross angaloppiert zu kommen und sie zu retten? Es war wieder mal so typisch. Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er in seiner Zelle hockte und sich wie der große Held vorkam. Dabei wäre sie ohne ihn und seine beschissenen Geheimnisse gar nicht erst allein dort oben unterwegs gewesen.
Sie ging den Weg entlang, der hinunter zum See führte. Ob er wohl zugefroren war? In der Nähe des Hauses, in dem April aufgewachsen war, hatte es einen See gegeben, wo sie im Sommer Froschlaich gesammelt und kleine Segelboote hatten schwimmen lassen. Im Winter war er so dick zugefroren gewesen, dass April auf dem Eis hatte hinauslaufen und die Fische unter der Oberfläche beobachten können.
DI Reece hatte erzählt, ihre Schreie hätten die Polizisten am unteren Tor auf den Plan gerufen. Bei ihrem Eintreffen hätten sie Gabriel mit blutverschmierten Händen über der Leiche vorgefunden. Er wurde beschuldigt, Marcus getötet zu haben, und man suchte derzeit nach einer Verbindung zwischen den Morden an Isabelle und Alix Graves und möglicherweise sogar zu Laylas vermeintlichem Selbstmord. April wusste, dass all das völliger Blödsinn war, trotzdem war sie so stinksauer auf ihn, dass er für den Rest seines Lebens im Gefängnis verrotten konnte, wenn es nach ihr ginge.
Beim Gedanken an seinen Verrat spürte sie einen heftigen Stich. Wie hatte er ihr das antun können? Sie hatte ihm alles gegeben, hatte ihm das Leben gerettet, und er hatte es ihr gedankt, indem er sich mit dem erstbesten Mädchen einließ, das daherkam.
Sie stieß einen Fluch aus. Wieso kann ich keinen normalen, netten Freund finden, der mich einfach nur lieben will, statt mich ständig mit seinem Gefasel über Schicksal, Vampire, Gut gegen Böse zu nerven?, dachte sie.
Doch wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie trotz ihrer Wut auf Gabriel ein ganz klein wenig Gewissensbisse hatte. Gabriel hatte versucht sie zu retten. Vielleicht war er nach ihrem Streit auch nur wütend gewesen, und Marcus war ihm gewissermaßen ins Messer gelaufen. War sie für Marcus’ Tod verantwortlich? Offensichtlich hatte er vorgehabt, sie zu töten. Er hätte danach ganz bestimmt keine schlaflosen Nächte gehabt, aber das hinderte April nicht daran, sich zu fragen, ob sie irgendetwas hätte tun können, um es zu verhindern. Vielleicht war sie einfach nicht für ein Leben als Furie geschaffen.
Enttäuscht stellte sie fest, dass die Eisschicht auf dem kleinen
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