Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
glaubst du wirklich, dass es da so viel zu überlegen gibt? Ich meine, mal ernsthaft. Im Grunde ist der Weg doch vorherbestimmt, oder nicht?«
Ihr wurde eiskalt. Wusste er etwas? Wann immer sie mit ihm redete, hatte sie das Gefühl, als wisse er mehr, als er herausließ. Andererseits könnte es sich ebenso gut um eine weitere hinterhältige Taktik von ihm handeln.
»Schicksal?«, stammelte sie.
»Ja, Schicksal, April. Etwas, dem man nicht entfliehen kann, auch wenn man es noch so gern tun würde.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Nun ja, du willst doch bestimmt in die journalistischen Fußstapfen deines alten Herrn treten, oder etwa nicht?«
Eine Woge der Erleichterung durchströmte sie.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Erstens wegen deines Interesses an Geschichte und Englisch.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Zweitens steckst du deine Nase gern in die Angelegenheiten anderer Leute. Du brichst ins Büro des Rektors ein und durchsuchst Häuser, und ein bisschen Amateurchemie kommt auch noch dazu.«
Sie starrte ihn entsetzt an. Wie konnte er all das wissen?
»Wovon reden Sie?«
»Du weißt genau, wovon ich rede, April Dunne«, gab er zurück und funkelte sie an, ehe er sie erneut am Arm packte.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, fauchte sie, doch seine Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um ihren Oberarm.
»Nein, April. Ich werde dich nicht in Ruhe lassen, auch wenn du noch so laut schreist und deine Mutter und dein Großvater noch so sehr versuchen, mich rauszukegeln. Du bist der Schlüssel zu diesem Fall, und ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber ich habe den Ruf, dass ich Resultate liefere. Ich werde so lange an dir dranbleiben, bis ich kriege, was ich haben will. Und ich bekomme immer, was ich will.«
Sie sah sich panisch um, suchte den Raum nach Caro ab, nach Gabriel. Wo zum Teufel war er?
Unvermittelt ließ Tame sie los. Auf seinem Gesicht lag ein grausames Lächeln.
»Suchst du nach deinem Freund? Ich schätze, du findest ihn unten am See.«
April stand wie benommen da und rieb sich den Arm. Dieser Mann hatte vollkommen den Verstand verloren. Irgendjemand musste doch mitbekommen haben, was sich hier gerade abgespielt hatte. Sie sah sich um, doch alle schienen mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt zu sein. Außerdem war dies ein Schulball – jeder, der ihre Auseinandersetzung beobachtet haben könnte, würde automatisch davon ausgehen, dass Tame sie nur zusammengestaucht hatte oder so. Sie sah ihm nach, wie er sich zu einem Grüppchen Anzugträger gesellte, zu denen auch Nicholas Osbourne gehörte, und lachend Hände schüttelte, als wäre alles in bester Ordnung. Und wer würde ihr schon glauben? Ein tiefes Gefühl der Scham überkam sie beim Gedanken daran, was sie vor wenigen Minuten über ihre Mutter gesagt hatte. Silvia hätte sie beschützt, keine Frage. Apropos beschützen – hatte ihre Mutter Gabriel nicht mit auf den Weg gegeben, auf sie aufzupassen? Wo zum Teufel steckte er?
April trat auf die Holzterrasse. Sie war mit Tischen und Stühlen bestückt, doch trotz der Heizstrahler hatte sich so gut wie kein Gast hierher verirrt. Sie blickte auf den See hin-aus, auf dessen glatter Oberfläche sich die Lichter spiegelten: ein Ort wie geschaffen für ein romantisches Stündchen zu zweit – sofern man seinen Begleiter finden konnte. April schlang sich die Arme um den Oberkörper. Es war eiskalt. Seit Marcus Brents Anschlag auf sie war sie empfindlicher. Die Wunden waren zwar gut verheilt, trotzdem war sie immer noch nicht wieder ganz auf dem Posten. Sie fragte sich, ob sie sich jemals wieder so stark fühlen würde wie früher.
Wo ist er? , dachte sie verärgert, trat von der Terrasse und ging den schmalen Weg ein Stück entlang. Nach ihrer Begegnung mit Tame brauchte sie dringend etwas frische Luft. Wäre doch bloß ihr Vater hier. Wo bist du, Daddy? Siehst du uns? Ich hoffe, denn ich kann im Moment weiß Gott jemanden gebrauchen, der ein Auge auf mich hat . In diesem Augenblick hörte sie das Knirschen von Kies und leise Stimmen. Sie blieb abrupt stehen, als sie in einigen Metern Entfernung zwei Gestalten ausmachte. Sie wollte die beiden nicht stören, doch aus irgendeinem Grund wandte sie sich nicht sofort zum Gehen. Im selben Moment sah sie, wie der Junge die Hand hob und das Gesicht des Mädchens berührte. Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ehe er sich vorbeugte und sie auf die Wange küsste. Der Geste wohnte eine unendliche
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