Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
See hauchdünn und an mehreren Stellen bereits durchgebrochen war. Kinder hatten jede Menge Steine und Stöcke hinausgeworfen und sie in eine riesige Eiswürfelwüste verwandelt. Mist. Sie sah auf die Uhr. Fünf Minuten vor zwei. Sie drehte sich um und schlug den Weg zum Haus ein, als sie Miss Holden erspähte.
»Was ist los, April?«, fragte die Lehrerin. Sie trug einen langen Mantel und eine Wollmütze. Auf ihren Wangen lag ein rosiger Hauch, der jedoch nicht allein von der Kälte stammen konnte. »Du kannst mich nicht einfach anrufen und mich ohne weitere Erklärung hier antanzen lassen.«
»Mir war nicht klar, dass eine weitere Erklärung nötig gewesen wäre, Miss Holden. Ich wurde vor drei Tagen beinahe getötet, wie Sie bestimmt wissen.«
»Natürlich weiß ich das, April.«
»Marcus schien zu wissen, dass ich die Furie bin.«
»Das liegt nahe. Vermutlich befand er sich in einem ziemlich schlechten Zustand.«
»Wussten Sie davon?«
»Es ist nur logisch, April. Immerhin war er beim Winterball über und über mit deinem Blut verschmiert. Es hätte mich gewundert, wenn er sich nicht infiziert hätte.«
»Aber wenn er Bescheid wusste, dass ich die Furie bin, wissen es vielleicht auch noch andere.«
»Möglich.«
»›Möglich‹? Haben nicht Sie mir erst vor ein paar Tagen zugeredet, dass wir das alles schon hinkriegen?«
Statt einer Antwort rieb Miss Holden sich lediglich die Handgelenke. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie geweint.
»Was ist denn los, Miss Holden?«
Die Lehrerin sah April mit einer Mischung aus Verärgerung und Mitgefühl an.
»Die Wächter haben mir gestern Abend einen Besuch abgestattet. Sie waren alles andere als begeistert davon, dass ich dir bei der Herstellung des Drachenhauchs geholfen habe.«
»Einen … Besuch abgestattet?«
»Sie haben mich ›befragt‹, wie sie es nennen. Es ist so, wie wenn man ins Büro des Rektors gerufen wird, nur ein klein wenig ernster. Sie haben mich suspendiert.«
Sie streckte die Arme aus. Entsetzt schnappte April nach Luft. Die Haut an ihren Handgelenken war rot und wund.
»Oh Gott, was ist passiert?«
»Sie haben mich gefesselt und ›befragt‹. Sie dachten, ich hätte mich auf die andere Seite geschlagen.«
Eine Woge der Übelkeit stieg in April auf. Ihre Lehrerin war gefoltert worden, und all das nur wegen ihr.
»Aber das ist doch völlig verrückt«, rief sie.
»Ach ja?«, blaffte Miss Holden zurück. »Wir Wächter müssen schwören, die Vampire zu bekämpfen, und alles daransetzen, sie von der Erde zu verbannen. Und ich habe nicht nur Gabriel das Leben gerettet, sondern ihn wissentlich von einem Menschen in einen Vampir verwandelt. Das verstößt gegen all unsere Regeln, gegen alles, wofür wir stehen, was auch immer die Gründe dafür gewesen sein mögen. Ich kann von Glück sagen, dass sie mich nicht getötet haben.«
»Aber haben Sie ihnen nicht erzählt, weshalb Sie es getan haben? Sie haben doch selbst gesagt, dass Gabriel anders ist als die anderen. Was ist damit?«
»Das interessiert die Wächter nicht, April«, stieß Miss Holden hervor. »Sie befinden sich im Krieg gegen die Vampire! Und in einem Krieg kann man sich nicht überlegen, ob einer der Feinde vielleicht doch zu den Guten gehört, sondern man tötet weiter, so lange, bis alle verschwunden sind.«
»Das ist ja grauenhaft! Damit sind sie keinen Deut besser als die Blutsauger!«
Miss Holden starrte lediglich wortlos auf den See hinaus.
»Aber Sie können mir doch trotzdem weiterhin helfen, oder?«
»Nein, April. Das geht leider nicht. Man hat mir befohlen, mich von dir fernzuhalten.«
»Was? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Was soll ich denn jetzt machen?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte sie müde. »Einfach weitermachen wie bisher, schätze ich. Es hat sich doch nichts verändert, oder? Ravenwood rekrutiert nach wie vor all deine Freunde, und du willst herausfinden, wer deinen Vater getötet hat, richtig?«
April traute ihren Ohren nicht. Sie war hergekommen, um sich ein wenig aufmuntern zu lassen und einen guten Rat von ihrer Lehrerin zu holen, doch stattdessen ließ Miss Holden sie eiskalt im Regen stehen.
»Aber ich schaffe es nicht allein, Miss Holden!«, stieß sie verzweifelt hervor. »Wieso können Sie mir nicht trotzdem helfen, auch ohne die Erlaubnis der Wächter?«
»Wieso? Weil ich es satthabe, April!«, schrie Miss Holden. »Ich bin diesen ganzen Mist leid. Verstehst du das denn nicht? Ich habe mich voll und ganz der Sache
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