Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
Erinnerungsstück daran, dass ihr Vater seinen Fußabdruck auf der Erde hinterlassen hatte. Schließlich stieß sie auf eine Urkunde – »Nachwuchsjournalist des Jahres 1994« – und ein merkwürdiges Kunststoffding in der Form eines umgedrehten Eiszapfens, auf dem die Worte »British Press Awards 2000. Beste Feature-Story« eingeprägt waren.
Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass ihr Vater diese Auszeichnungen bekommen hatte. Er hatte ihr nie davon erzählt. Aber wie auch? Im Jahr 2000 war sie gerade einmal sechs Jahre alt gewesen.
Beim Gedanken daran schossen ihr die Tränen in die Augen. »Oh, Daddy, ich bin so stolz auf dich«, flüsterte sie. »Ich wünschte, du wärst hier.«
Sie wünschte sich nichts sehnlicher. Nicht nur weil sie wollte, dass er lebte und es ihm gut ging, sondern weil William Dunne ganz bestimmt gewusst hätte, was zu tun war. Er hätte nicht das Handtuch geworfen, nur weil ihm alles zu viel war.
»Okay, jetzt aber los«, sagte sie, wischte sich die staubigen Hände an ihren Jeans ab und riss eine schwarze Mülltüte von der Rolle.
Während der nächsten Stunde füllte April fünf ganze Müllsäcke und entsorgte gnadenlos alles, was keinen Bezug zu Ravenwood besaß und keine Hinweise darauf zu liefern schien, welche Recherchen er in den letzten Wochen seines Lebens betrieben und mit wem er gesprochen hatte. Als sie den letzten Karton ausgeräumt hatte, legte sie das gesamte »aufschlussreiche« Material in einen Koffer, den sie unter der Kellertreppe verstaute. Dann schleppte sie die vollen Müllsäcke nach oben und reihte sie auf der Treppe auf, um sie später in die Mülltonne zu wuchten.
»Was ist das denn da im Flur?«, rief Silvia die Treppe herunter.
»Ich räume auf und mache mich ein bisschen nützlich, wenn ich schon nicht raus darf.«
»Und was ist da drin?«, fragte ihre Mutter argwöhnisch.
»Dads Sachen. Das Zeug, das die Polizei durchsucht hat. Alles Wichtige habe ich aussortiert, aber der Großteil sind sowieso nur alte Zeitungen und Magazine.«
Silvia beäugte die Säcke, als könnten sie sie jederzeit anspringen.
»Willst du sie noch mal durchsehen? Könnte ja sein, dass etwas drin ist, was du aufheben willst.«
Silvia erschauderte. »Gott, nein, ich bin heilfroh, dass du die Sachen ausgemistet hast. Grauenhaft, was dort unten alles herumlag. Sein Arbeitszimmer war ständig mit irgendwelchem Krempel vollgemüllt.«
Sie wandte sich zum Gehen. »Lass die Säcke aber nicht dort stehen, April. Ich will nicht nachts über einen Stapel mit alten Der Autofreund -Ausgaben stolpern.«
»Du hättest mir ja auch anbieten können, mir beim Raustragen zu helfen«, sagte April halblaut und machte sich daran, die Säcke zur Mülltonne im Garten zu schleppen. »Was, wenn jemand mich auf der Türschwelle überfällt?«
Später zerrte sie den Koffer mit dem restlichen Material die Treppe hinauf in ihr Zimmer und wuchtete ihn aufs Bett. Als Erstes ging sie den Stapel Fotos durch, die sie gefunden hatte. Es waren fast ausnahmslos Aufnahmen von ihr: April mit ihrem Tretroller, April mit Schwimmflügeln in einem Pool, April unterm Weihnachtsbaum, wo sie mit verzückter Miene das Geschenkpapier ihrer neuen Barbie aufriss. Von den restlichen Familienmitgliedern gab es nur wenige Aufnahmen, und nur eine einzige von ihr und ihrem Dad am Loch Ness – einer der letzten glücklichen Urlaube, an die sie sich noch erinnern konnte. Das Foto war leicht verblasst, aber es zeigte eindeutig April und ihren Dad, wie sie neben dem »Nessy Fundland«-Schild saßen. Der Hintergrund war etwas verschwommen, doch es schien der See zu sein. Ihr blutete das Herz. Es war das einzige Foto von ihm, das ihr außer seinen vergilbten Autorenfotos geblieben war. Und definitiv das Einzige, auf dem sie beide zu sehen waren: Die Dunnes gehörten nicht zu diesen Familien, die sich bei jeder Gelegenheit aufstellten und »jetzt mal alle hübsch lächeln« riefen. April erinnerte sich an die langen Spaziergänge am See entlang, während ihre Mutter über Heuschnupfen oder sonst etwas geklagt hatte. Es war eine herrliche Zeit gewesen, damals, bevor ihre Eltern angefangen hatten, sich wegen jeder Kleinigkeit zu streiten. Sie und ihr Dad waren meilenweit marschiert und immer wieder stehen geblieben, um mit dem Fernglas die Wellen zu beobachten. Zwar hatten sie Nessy nicht gesichtet, aber William Dunne hatte sich davon nicht beirren lassen. »Man weiß nie, was dort draußen ist«, hatte er zu ihr gesagt. »Die meiste
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