Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
die sie stets mit missbilligendem Blick gemustert hatte, ob sie nun etwas verbrochen hatte oder nicht. Eigentlich sollten Gotteshäuser Orte der Besinnung und der Freude sein, aber große Kirchen vermittelten ihr immer das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Tja, vielleicht habe ich ja etwas zu beichten, dachte sie. Ihre Unterredung mit Inspector Reece hatte sie zutiefst beunruhigt. Und wenn sie seine Andeutung richtig interpretierte, hatte er gegenüber Miss Holden wohl etwas Ähnliches verlauten lassen – dass noch mehr Menschen sterben würden, wenn April nicht bald mit der Sprache herausrückte. Menschen, die ihr wichtig waren. Menschen, die ich liebe, dachte sie errötend, als sie die Tür öffnete und den langen Gang zwischen den Kirchenbänken vor sich sah. Oh Gott, April, wie kannst du ausgerechnet jetzt ans Heiraten denken? Sie wandte den Blick nach oben. Die Vorstellung, dass Gott womöglich gerade zu ihr herabsah, missbilligend mit der Zunge schnalzte und den Kopf schüttelte, machte sie ein wenig nervös. Was denn? Was habe ich schon Schlimmes getan? Ich will doch nur seine Liebe, immer mit ihm zusammen sein, dachte sie. Und ich dachte, du wärst die Liebe selbst.
April setzte sich auf eine der Bänke, unschlüssig darüber, was sie eigentlich hier wollte. Sie fühlte sich klein und unbedeutend. Jeder lag ihr damit in den Ohren, wie überaus wichtig sie war, dabei fühlte sie sich keineswegs so. Sie dachte an Layla und hoffte, dass ihr nichts passiert war. Auch das war typisch dafür, wenn man in einer Kirche saß – man wünschte anderen nur das Beste, zumindest so lange, wie man sich im Haus des Schöpfers befand.
Als sie aufsah, fiel ihr ein großes Buntglasfenster ins Auge. Szenen aus der Bibel: Jesus bei der Speisung der fünftausend, Jesus, der die Lahmen und Blinden heilte. Ein Detail aber passte nicht ins Bild – ein Fuchs, der zu Jesu Füßen lag. Er hatte rote Augen und eine seiner Pfoten ruhte auf einem Schwert. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Zugegeben, sie hatte nicht viel Zeit ins Bibelstudium investiert – tatsächlich hatten Fiona und sie die Religionsstunden mehr dazu genutzt, sich Zettelchen zuzuschmuggeln und verstohlen vor sich hin zu gackern –, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, dass im Neuen Testament Füchse vorkamen. Schließlich hatte sich die ganze Geschichte doch in Israel und Ägypten abgespielt, oder? Und soweit sie wusste, gab es dort keine Füchse.
Als sie aufstand und zum Altar trat, erinnerte sie sich daran, wie der mit Blumen geschmückte Sarg ihres Vaters dort aufgebahrt gewesen war. Die Erinnerung daran war noch so frisch, dass sie die Tränen mit aller Kraft unterdrücken musste.
Vor ihr war eine Platte im Boden eingelassen. Die Inschrift besagte, dass unter diesem Stein Samuel Taylor Coleridge begraben lag, und darunter standen die seltsamen Worte:
Halt ein, du Christenmensch. Halt ein, du Gotteskind,
Und lies mit sanftem Atem. Tief unter dieser Narbe
Liegt ein Poet – vielmehr, was er einst war.
So sprecht ein Gebet für S. T. C., den Mann,
der so viel Tod im Leben fand, auf dass er nun im Tod
Durch euren Dank das Leben und die Gnade finde.
Sei ihm der flücht’ge Ruhm vergeben; er fragte stets,
Hoffte durch Gott: So tut’s ihm gleich.
Coleridge? War er nicht mal im Englischunterricht vorgekommen? Wieso lag er hier begraben? Im selben Moment hörte sie das Quietschen von Gummisohlen auf dem Steinboden. Sie sah auf. Mr Gordon, der Pfarrer, kam auf sie zu. Er hatte rote Wangen und gütige Augen, in denen ein jugendliches Feuer zu glimmen schien. Er hatte eine ergreifende Trauerrede auf ihren Vater gehalten, und sie hatte sich in seiner Gegenwart sicher und gut aufgehoben gefühlt. Sie hoffte nur, dass er ihr weiterhelfen konnte.
»Unser ehrwürdigster Untermieter«, sagte der Vikar mit Blick auf die Grabplatte.
»Liegt Coleridge tatsächlich hier?«, fragte April.
»Oh ja. Aber erst seit etwa fünfzig Jahren.«
April sah ihn neugierig an.
»Aber ist er nicht schon viel länger tot? Er hat doch im 18. Jahrhundert gelebt, oder nicht?«
Der Pfarrer lachte.
»Ja. 1772 geboren, 1834 gestorben. Er wurde erst bei der alten Kapelle neben der Knabenschule begraben, aber in den sechziger Jahren gab es irgendwelche Probleme, deshalb wurden seine sterblichen Überreste hierher überführt.«
April zog eine Grimasse. »Also, mir würde das nicht gefallen. Ich meine, in Frieden ruhen kann man das ja wohl nicht gerade
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