Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
entblößte. Gabriel machte jedoch keine Anstalten, zurückzuweichen. Er und die Hunde starrten einander feindselig an. Keiner schien nachgeben zu wollen.
»Du erstaunst mich, Gabriel«, sagte die alte Frau. Sie war klein und hatte graues, zu einem Knoten im Nacken frisiertes Haar, trug eine Steppjacke und grüne Gummistiefel, als hätte sie mit ihren Hunden einen Spaziergang durch die Wälder gemacht.
»Und wieso?«, fragte Gabriel, ohne den Blick von den Hunden zu nehmen. »Wirst du etwa langsam alt?«
Die Frau lachte freudlos.
»Wage es nicht, unverschämt zu werden«, gab sie drohend zurück. »Ich weiß genau, weshalb du hier bist. Die Frage ist nur, warum du dieses Risiko eingehst.«
»Worüber redet ihr?«, unterbrach April die beiden.
Die Frau musterte April.
»Du bist also die Auserkorene. Du bist hübscher, als ich dachte. Jetzt ist mir klar, wieso er …«
»Lass sie da raus«, herrschte Gabriel sie an und trat zwei Schritte vor. Wieder begann einer der Hunde zu bellen.
»Pfeif gefälligst deine beiden Köter zurück«, grollte Gabriel, »sonst kann ich für nichts garantieren, wie du weißt.«
»Ach ja? Tue ich das?«, fragte die Frau. »Deine Aura ist nicht mehr das, was sie einmal war, Gabriel. Du bist schwach geworden. Woran mag das wohl liegen?«
»Unterschätz mich nicht, alte Frau.«
»Und du wage es nicht, mir zu drohen«, blaffte sie zurück. »Du kennst die Regeln.«
»Erzähl du mir nichts von Regeln, Hexe! Es gibt keine Regeln mehr. Sie werden sich erheben und diesen Ort wie eine Welle unter sich begraben.«
Die Frau lachte. »Sie? Sprichst du etwa immer noch von dir, als wärst du etwas Besseres als sie? Wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt. Was ist mit denen in der Hanbury Street? Oder am Mitre Square?«
»Hörst du immer noch auf das Geschwätz anderer Leute?«, rief Gabriel. »Bist du allen Ernstes so verblendet …«
»Was ist hier eigentlich los, verdammt noch mal?«, unterbrach April. »Worum geht es?«
Die Frau sah April an. Allmählich schien ihre Wut zu verrauchen.
»Dein Freund ist in diesen Wäldern nicht willkommen«, sagte sie leise. »Das hier ist ein guter, sauberer Ort. Wir erlauben es nicht, dass das Dunkle hier eindringt.«
»Dir wird gar nichts anderes übrig bleiben, du dämliches altes Weib!«, schrie Gabriel ohne Vorwarnung. »Nichts wird sie aufhalten. Absolut nichts. Die Dunkelheit kommt über uns alle. Das muss doch selbst dir klar sein.«
»Ist das etwa eine Drohung?«
»Ihr beide klingt wie zwei Kleinkinder, verdammt noch mal«, sagte April. »Ich habe keine Ahnung, wieso Sie so wütend auf ihn sind, aber Sie wollen offenbar nicht, dass Vampire hierherkommen.«
Die Frau starrte sie wortlos an.
»Ja, genau, er ist ein Vampir. Ja, wir wissen es, und ja, er hilft uns. Und?«, rief April.
»Es ist ihnen verboten, diesen Wald zu betreten. Es verstößt gegen die alte Lehre.«
Zu ihrer Verblüffung lachte April laut auf.
»Sie sollten sich reden hören«, sagte sie. »Die alte Lehre? Sie sind nicht Gandalf, und das hier ist nicht das Auenland.«
Die Frau starrte sie verdattert an, und auch Gabriel hatte offenbar nicht mit ihrem Ausbruch gerechnet.
»Es tut mir leid, dass wir herkommen mussten«, fuhr April ein wenig sanfter fort, »aber es war wichtig. Etwas geschieht mit den Vampiren da draußen. Ich habe keine Ahnung, was es ist oder ob es etwas mit dieser Dunkelheit zu tun hat, von der Gabriel gerade sprach, aber er hat recht: Es verstößt gegen sämtliche Regeln und Gesetze, ob nun die der Vampire oder sonst irgendwelche. Wenn Sie so eine Art Hexe sind, werden Ihnen Ihr Magischer Kreis oder Ihre alten Überlieferungen auch nichts nützen. Sie haben uns jedenfalls nicht daran gehindert, diese Wälder zu betreten.«
Der Anflug eines Lächelns erschien auf den Zügen der alten Frau.
»Das Mädchen hat Mumm in den Knochen. Und klug ist sie auch«, sagte sie. »Du hast eine gute Wahl getroffen, Gabriel.«
»Vielleicht habe ich mir ja auch ihn ausgesucht«, wandte April ein. »Aber trotzdem danke.«
Die Frau stieß einen leisen Pfiff aus, worauf die beiden Hunde ein Winseln von sich gaben und sich hinlegten. Sie trat vor. »Darf ich?«, fragte sie freundlich.
April nickte. Die Frau hob die Hand und schob April das Haar hinters Ohr.
»Ich verstehe. Die Last der Welt ruht auf deinen Schultern, Kind. Ich muss dir nicht noch mehr aufladen. Nehmt eure Kräuter und geht in Frieden.«
Sie berührte Aprils Schulter und beugte sich
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