Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
nichts als Märchen, um den Kindern Angst zu machen und dafür zu sorgen, dass sie nachts brav in ihren Betten bleiben, aber als ich erst einmal alt genug war, hat er mir gezeigt, dass seine Geschichten alle wahr sind.«
»Wo ist Ihr Dad jetzt?«, fragte April.
»Er ist tot, April. Das Dasein eines Wächters ist ein bisschen so, als wäre man Bombenexperte. Man muss eine Menge Dinge lernen, und wenn man nur ein winziges Detail nicht versteht, kann alles ganz schnell vorbei sein.«
»Tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Im Gegensatz zu euch haben wir Wächter die Wahl. Mein Vater hatte sich für dieses Leben entschieden. Er hat an unsere Sache geglaubt, genauso wie ich es tue … aber ich mache das hier nicht zu meinem privaten Kreuzzug. Die Wächter sind eine riesige Organisation. Wir sind in sämtlichen Ländern der Welt vertreten, quer durch sämtliche Gesellschaftsschichten. Und wie in jeder Organisation gibt es auch bei uns eine Hierarchie. Ich kann nicht einfach beschließen, dass wir ab jetzt alles ganz anders machen. Wenn ich gegen die Regeln verstoße, wird das Konsequenzen für mich haben.«
»Aber Sie haben doch eine Wahl: Sie können sehr wohl selbst entscheiden, wie Sie sich verhalten.«
»Das kann ich, aber ich muss mir auch überlegen, ob es das wert ist, die Konsequenzen dafür zu tragen.«
»Sind diese Konsequenzen denn so gravierend?«
Sie nickte seufzend.
»Es tut mir wahnsinnig leid, Miss, aber es geht hier um Leben und Tod. Wenn jemand blutüberströmt vor Ihrer Tür stünde, würden Sie sie einfach zumachen und sich eine Tasse Tee einschenken?«
»Nein, wohl kaum.«
»Was würden Sie dann tun?«
»Ich würde etwas unternehmen.«
April hob die Tüte auf und stellte sie auf den Tisch.
»Dann lassen Sie uns das tun.«
Den Drachenhauch herzustellen entpuppte sich als höchst langwierige Angelegenheit. April war bewusst, dass es ihr nie im Leben gelungen wäre, das Elixier allein herzustellen. Miss Holden arbeitete die ganze Nacht, zerrieb die Pflanzen mit einem Stößel im Mörser, um eine dicke Paste daraus kochen zu können. Dichter Dampf stieg aus Töpfen und Pfannen auf und hing wabernd in der Luft, und überall lagen haufenweise Kräuter herum. Beim Anblick des Chaos musste April unweigerlich an ihren Dad denken. Zu jedem Geburtstag hatte er darauf bestanden, ihr einen Kuchen zu backen. Am Ende waren er und April jedes Mal über und über mit Mehl bestäubt gewesen, und Butter- und Teigklumpen hatten an ihren Haaren und Kleidern geklebt. Silvia war mit dem Staubsauger durch die Küche gerannt und hatte gemault, sie hätten lieber eine Torte bei Fortnum and Mason kaufen sollen, aber am Ende hatte sie doch jedes Mal den Kuchen verschlungen und erklärt, es sei der leckerste, den sie je im Leben gegessen hätte. Ihr Dad hatte ihr einen Kuss gegeben und gemeint, das liege daran, dass er »mit Liebe gebacken« sei. Natürlich war bei ihrem letzten Geburtstag keine der alten Dunne-Familientraditionen gepflegt worden, andererseits waren die Dunnes auch nicht mehr dieselbe Familie wie früher. Und nun stand April hier, in einer fremden Küche, und zwang eine Frau, die sie kaum kannte, einen Zaubertrank zu mixen, um jemanden zu retten, den sie völlig zu Recht aus tiefster Seele hassen könnte – während sie Gefahr lief, auch noch ihr eigenes Leben dabei zu verlieren. Es mochte eine andere Art der Liebe sein, die sie hier erlebte, doch es war eindeutig Liebe.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Miss Holdens Stimme riss sie aus ihren Tagträumen. Sie wurde rot.
»Tut mir leid, ich musste nur gerade an meinen Dad denken«, stammelte sie. »Wir … äh … wir haben immer zusammen Kuchen gebacken … aber egal. Es ist total albern.«
»Nein, das ist es nicht, April. Du musst dich an deinen Vater erinnern. Solange du das tust, lebt ein Teil von ihm weiter.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich weiß es sogar, April. Ich habe es selbst erlebt.«
»Tut mir leid«, sagte April. »Manchmal vergesse ich, dass ich nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der seinen Vater verloren hat.«
»So ist das nun mal«, sagte Miss Holden.
Sie bedeutete April, zu ihr an den Herd zu treten, wo der Trank in einer kleinen kupfernen Pfanne brodelte.
»Gib mir deinen Daumen«, sagte sie.
»Meinen … Daumen?«, stammelte April, doch ehe sie protestieren konnte, hatte die Lehrerin ihre Hand genommen und zog ein Messer quer über ihre Daumenkuppe.
»Aua!«, schrie April auf und versuchte, ihre Hand
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