Gefangene der Dämmerung: Ravenwood 2 - Roman (German Edition)
aggressiv und penetrant.« Als die Schulsekretärin April aus der Englischstunde holte, hatte April sich im Geiste das Bild eines Mannes zusammengezimmert, das irgendwo zwischen Spion aus dem Kalten Krieg und SS-Offizier rangierte. Zu ihrer Überraschung musste sie feststellen, dass nichts davon auch nur ansatzweise zutraf.
»Ah, April«, sagte Mr Sheldon, als sie zur Tür hereinkam. »Das ist Dr. Tame. Er ist hier, um euch ein paar Fragen zu stellen.«
»April«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. Er war dürr, bleich und hatte langes schneeweißes Haar. Ein Albino, vermutete April beim Anblick seiner rosafarbenen Lider und Wimpern, die so hell waren, dass man sie nicht erkennen konnte. Statt aufzustehen, reichte er ihr lediglich die Hand – sie war so schlaff wie ein nasser Waschlappen.
»Mr Sheldon hat mir schon viel von dir erzählt«, erklärte er. »Ich bin sicher, wir werden uns sehr gut verstehen.«
Er warf einen kurzen Blick in Sheldons Richtung, worauf der Schulleiter aufsprang. »Tja, dann will ich Sie beide mal allein lassen«, murmelte er und schloss die Tür hinter sich. Seltsam. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so zu kuschen. Andererseits war im Moment nichts, wie es sonst war.
»Setz dich nur«, forderte Dr. Tame sie mit einer Geste in Richtung des Stuhls vor dem Schreibtisch auf. April quetschte sich auf den unbequemen Holzstuhl. Dr. Tames Augen waren wässrig und seine durchscheinende Haut wies eine leicht bläuliche Färbung auf. Auf seinen Zügen lag ein Lächeln, das April ein klein wenig beunruhigte. Es kostete sie einige Überwindung, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, deshalb wandte sie den Blick ab und starrte zu Boden. Dr. Tame fixierte sie scheinbar ungerührt, bis sie irgendwann das Schweigen brach.
»Sind Sie Psychologe?«
»Sehe ich denn nicht wie einer aus?«
»Ich kenne keinen, deshalb weiß ich es nicht. Ich habe gehört, Sie haben in Oxford unterrichtet.«
»Das stimmt. Ich habe unterrichtet und eine Schule geleitet. Aber ich war auch Fischer. Was davon ist deiner Meinung nach am wichtigsten?«
April mochte ihn nicht. Es gefiel ihr nicht, dass er ihre Fragen grundsätzlich mit einer Gegenfrage quittierte, offenbar, um sie aus dem Konzept zu bringen.
»Ich wusste nicht, dass es bei dieser Befragung um mich geht. Wollen sie mich nicht nach Layla fragen?«
»Möchtest du mir vielleicht etwas über sie erzählen?«, fragte er.
»Nein. Ich dachte, deswegen wären Sie hier. Inspector Reece sagte …«
»DI Reece und du, ihr versteht euch ziemlich gut, was?«, unterbrach Dr. Tame. »Ihr seid … so was wie Freunde?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber er ermittelt im Mord an meinem Vater.«
»Ja, ja, ein überaus tragischer Vorfall«, sagte Tame und richtete den Blick gen Zimmerdecke, »der eine Menge Fragen aufwirft.«
»Fragen? Was meinen Sie damit?«
»Oh, zum Beispiel, wer ihn ermordet hat«, antwortete Tame und sah wieder April an. »Das willst du doch bestimmt wissen, kann ich mir vorstellen.«
»Natürlich will ich das«, sagte April.
»Ist das der Grund, weshalb du Layla umbringen wolltest?«
April fühlte sich, als wäre sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst worden. Einen Moment lang brachte sie keinen Ton heraus.
»Sie umbringen?«, stieß sie schließlich hervor.
Tame griff nach einer Akte und schlug sie auf. »Ja, ganz genau. Das waren doch deine Worte, oder nicht? ›Ich werde dich umbringen.‹«
Eine Woge der Besorgnis und Erleichterung durchströmte sie. Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein, oder? So etwas sagten die Leute ständig. Sie hatte doch nicht wirklich vorgehabt, sie umzubringen.
»Ja, das habe ich gesagt, aber damals hatten wir einen Streit. Sie hat schlecht über meinen Vater gesprochen, und ich war wahnsinnig wütend auf sie. Aber ich wollte sie ganz bestimmt nicht umbringen.«
»Wut ist eine sehr gefährliche Regung«, erklärte Dr. Tame. »Sie lässt Menschen Dinge tun, die sie unter normalen Umständen niemals tun würden. So wie zum Beispiel Layla.«
April runzelte die Stirn.
»Sie glauben also, sie war wütend?«
Der Psychologe stieß einen tiefen Seufzer aus und erhob sich mühsam von seinem Stuhl. Er wirkte sehr erschöpft.
»Wer kann das schon sagen? Ihr Freund ist unter tragischen Umständen ums Leben gekommen. Wut ist eine völlig normale Reaktion auf solche Tragödien. Man möchte jemandem die Schuld daran geben. Vielleicht hat er sie ja betrogen?«
»Mit wem? Mit mir? Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Aber genau das
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