Gefangene der Dunkelheit
kaum einen Schritt hinter ihm einen Moment lang über ihm auf. Falls er sich umwenden oder auch nur über die Schulter blicken sollte, würde er den Dämon sehen. Er würde aufschreien und zweifellos einen Fluch ausstoßen. Dann hätte Tristan ihn. Er würde ihn erschlagen.
Aber Sean blickte sich nicht um. Seine Tränen versiegten allmählich, als wäre er eingeschlafen. Tristan trat noch näher und streckte die Hand aus, um den mit Edelsteinen besetzten Dolch zu berühren, den Sean in einer Scheide an seinem Gürtel trug. Er zog ihn langsam heraus und wartete darauf, dass sich der Brigant regen würde, aber das tat er nicht. Er blickte auf das tödliche, aber wunderschöne Messer hinab, das vermutlich in Italien gefertigt worden war. Nur die reichsten und hochmütigsten Adligen würden eine solche Waffe tragen. Er fragte sich, wo Lebuin sie gestohlen hatte.
»Ich werde wieder zu dir kommen«, sagte er leise und steckte das Messer in seinen Gürtel. »Vielleicht noch vor der Dämmerung.« Der Brigant stöhnte, als träumte er schlecht, und Tristan lächelte. Das Verhängnis war nahe. Warum sollte er gut schlafen?
Er hörte vor der Tür Stimmen, die Stimmen der Männer, die in die Halle zurückkehrten. Er lächelte erneut bei dem Gedanken an das, was kommen würde, wandte sich um und eilte zur Treppe.
Siobhan betrat den Turm einige Zeit nach Mitternacht. Sie war stundenlang die Schlossmauer entlanggewandert, bis sich ihr Kopf fast wieder klar anfühlte. Aber ihr Herz war noch immer in Aufruhr. Sie musste allein sein. Zumindest würde sie in ihrem neuen Zimmer im Turm niemand stören.
In der unteren Halle war es still. Die Männer, die dort übernachteten, schliefen bereits. Sean selbst schlief an einem der Tische, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Sie wäre beinahe zu ihm gegangen und hätte ihn geweckt, aber nachdem sie einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, blieb sie stehen. Was könnte sie sagen, um ihm begreiflich zu machen, wie sie sich fühlte? Sie verstand sich ja selbst nicht. Seit sie zwölf Jahre alt war, hatte sie geglaubt, sie wären bei ihrer Suche nach Freiheit für sich und ihre Leute Partner. Aber so war es nicht. Sean war der Ritter mit einer Aufgabe. Sie war nur eine Schachfigur.
Das Zimmer, das er für sie eingerichtet hatte, war bis auf das Mondlicht vor dem Fenster dunkel. Jemand hatte einen fleckigen Spiegel an die Wand gegenüber der Tür gelehnt, und sie betrachtete nun ihr trübes Spiegelbild. Dies war der Preis, der Seans Meinung nach das Herz des Barons gewinnen konnte? Sie hätte beinahe laut gelacht. Ihre Jacke war so abgetragen wie ein Lumpen, war am Hals ausgefranst und hatte einen eingerissenen Ärmel, und ihre Lederhose war so zerschlissen, dass sie weich wie Leinen war, so lange trug sie sie schon. Sie war selbst für einen Jungen eine Schande. Zwar war ihr Gesicht sauber, aber auf einer Wange war eine vertraute, blasse Quetschung vom Rückschnellen ihrer Bogensehne erkennbar.
Und sie hatte auch noch weitere Quetschungen. An ihrem Hals waren fünf deutliche, runde Abdrücke zu sehen, die durch den Griff ihres toten normannischen Ehemannes entstanden waren. Vier waren zu einem fahlen Gelbgrün verblasst, aber derjenige über ihrem Puls war noch immer fast schwarz. Er hätte mich töten können, dachte sie, während sie sie berührte, und erinnerte sich an den Zorn in seinen blaugrünen Augen. »Tristan DuMaine«, flüsterte sie, wobei kaum ein Laut hervordrang, als ihre Lippen seinen Namen formten. Der Ritter des Teufels, ihr Feind. Der Normanne, den sie ermordet hatten. Er hatte sie wunderschön genannt.
Sie löste ihren Zopf und ließ das Haar lose in Wogen um ihre Schultern wallen, sodass es im sanften Licht blauschwarz schimmerte. Wie Seide, hatte er gesagt, als er es berührte. Sie fuhr mit ihren Händen hindurch, genauso wie er es getan hatte, und ließ es durch ihre Finger gleiten. Er hatte verzweifelt entkommen wollen. Er hatte gewusst, dass sie ihn töten würden. Sie hatte ihn nie etwas anderes glauben lassen. Sie hatte ihn nur berührt, um ihn zu demütigen, um zu beweisen, dass sie eine Brigantin war wie die Übrigen.
Aber er war nicht geflohen, als er seine Fesseln gesprengt hatte. Er hatte sie festgehalten. Er hätte sie im Handumdrehen töten und entfliehen können, aber das hatte er nicht getan. Er hatte sie auf den Mund geküsst. Ihre Hand irrte nun zu ihren Lippen, während sie sich an seinen Geschmack und daran erinnerte, wie sich seine Zunge
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