Gefangene der Dunkelheit
Denn das war genau der Ursprung ihrer Verzweiflung. »Und selbst wenn du damit recht hast, was können wir sonst tun? Unser Handlungsspielraum ist festgelegt. Wir können jetzt nicht mehr fliehen.«
»Wir könnten uns zur Wehr setzen«, sagte er. »Das Schloss ist fertig. Es könnte einer Belagerung standhalten.«
»Wie lange?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Du hast es selbst gesagt – die Nahrungsvorräte sind fast verbraucht. Und selbst wenn dem nicht so wäre, selbst wenn wir gut bevorratet wären, wie könnten wir einem königlichen Angriff standhalten?« Sie hatte den ganzen Tag an die verlogene Farce ihrer Hochzeit denken müssen. Nun dachte sie erneut daran – und an Tristans Fluch. Ich werde dich töten, Liebste , hatte er versprochen. Dann solltest du am besten herkommen und es tun, Liebster , dachte sie nun als Antwort und unterdrückte ein wahnsinniges Lachen. Sonst wird dir der Henker vielleicht zuvorkommen . »Du solltest gehen«, sagte sie laut. »Jetzt, bevor sie eintreffen – geh mit den Leuten, von denen du glaubst, dass sie erkannt werden könnten, durchs Südtor davon …«
»Bist du verrückt?«, unterbrach er sie bestürzt. »Ich werde hier nicht weggehen und dich den Normannen allein gegenübertreten lassen.«
»Nicht einmal, um uns beide zu retten?« Sie nahm seine Hände und zwang sich, nicht zu zittern und für sich und Sean und alle Leute ihres Vaters stark genug zu sein. »Wenn du fort bist, kann ich ihnen vielleicht glaubhaft machen, dass ich DuMaine aus freien Stücken geheiratet habe. Silas hat versprochen, meine Geschichte zu bezeugen, wie auch immer sie aussehen mag, und er ist am königlichen Hof wohlbekannt und sehr beliebt. Tristans Ritter kennen ihn auch.«
»Nein«, erwiderte er kopfschüttelnd. »Ich will das nicht hören …«
»Du musst es dir anhören.« Sie hatte keine Zeit mehr zu streiten oder seine Gefühle zu schonen. Die Nacht brach herein, und Tristans Freunde waren zurückgekehrt. Der Himmel allein wusste, was vor der Dämmerung geschehen würde. »Deine Pläne sind beinahe gescheitert, Sean, aber wenn du mir vertraust, kann ich ihnen noch immer zur Verwirklichung verhelfen. Silas kann mir besser helfen als du, und das weißt du. Und wenn dein Freund der Baron aufrichtig ist, wird auch er mir helfen. Und selbst wenn er es nicht ist …« Der Ausdruck der Qual in den Augen ihres Bruders ließ sie innehalten, bevor er sich noch schlechter fühlen würde, weil sie seinen großartigen Verbündeten verleumdete. »Ich bin nur eine Frau, Sean«, fuhr sie lächelnd fort. »Die Ritter kennen dich als ihren Feind, aber mich werden sie nur als Beute ansehen. Es wird ihnen niemals in den Sinn kommen, dass ich heimlich Verrat gegen ihren Herrn geplant haben könnte – sie werden schlimmstenfalls glauben, dass ich deine Schachfigur bin. Wenn ich vorgebe, die törichte Närrin zu sein, die sie in mir sehen, kann ich bei ihnen Mitleid anstatt Zorn erregen.«
»Du könntest eine solche Rolle niemals spielen, Siobhan«, protestierte er. »Das liegt dir nicht.«
»Ich kann alles tun, was ich will.« Sie spürte, dass er nachgab, und der einfühlsame Teil in ihr war froh darüber. Aber tief in ihrem Herzen schmerzte sie der Gedanke, dass er sie verlassen könnte, auch wenn sie es selbst von ihm forderte. Tristan würde mich nicht verlassen , dachte sie, obwohl sie den Gedanken gemieden hatte. Nicht wenn er mich liebt. Er hat die Verdammung in Kauf genommen, um bei Clare zu bleiben . Aber ihr Bruder war nicht Tristan. »Das hast du mich gelehrt, erinnerst du dich?« Sie umschloss mit ihren Händen sein Gesicht und fühlte sich viel zu alt, um seine kleine Schwester zu sein. »Ich werde sie glauben machen, dass ich bin, was sie sehen«, schloss sie. »Bin ich nicht wirklich hübsch?«
»Du bist wunderschön.« Er drückte ihre Hand an seine Wange und küsste sie. »Callard wird dich beschützen, bis ich zurückkehren kann.«
»Ich werde mich selbst beschützen.« Sie ließ sich von ihm umarmen und drückte ihn fest. Wie soll er jemals zurückkehren, dachte sie und hielt sich mit aller Kraft an ihm fest. Selbst wenn sie tat, wessen sie sich rühmte – was dann? Wollte sie auf ewig die Witwe des Normannen spielen? Sehr unwahrscheinlich, da ihr Ehemann eigentlich lebte und ein der Rache verschworener – tatsächlich ihrer Tötung verschworener – Vampir war. Sie trat zurück und schaute wie zum letzten Mal zu ihrem Bruder hoch. »Du brauchst keine Angst um mich zu
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