Gefangene der Sehnsucht
durchgestanden, sich zu oft aufeinander verlassen, kannten zu genau das Denken und die Antworten des anderen, als dass es jetzt mehr erforderte als knappe Worte. Manchmal brauchten sie nicht einmal die, was durchaus sehr störend für jemanden sein konnte, der sich mit ihnen in einem Zimmer – oder auf dem Schlachtfeld – befand.
»Jetzt?«, fragte Ry.
Jamie schüttelte den Kopf. »Lass uns abwarten, was Eva tut. Überlass mir die Führung, und wenn wir ihn haben« – er schaute zu Eva –, »lass mich mit ihr allein.«
Ry hatte zustimmend genickt, aber bei diesen letzen Worten sah er Jamie eindringlich an. »Tu es nicht. Sie ist wehrlos.«
Jamie schnaubte abfällig. »Bevor du ihre Zerbrechlichkeit zu sehr bejammerst, erinnere dich daran, dass sie mir vorhin fast das Knie ausgerenkt hat und dass sie mit Dolchen geradezu gespickt war. Wir haben keine Schutzbefohlene in unserer Obhut, Ry. Wir haben einen Feind in Gewahrsam.«
Letzteres war schließlich einfacher, als jemanden seiner Fürsorge anvertraut zu wissen. Und was Jamie betraf – nun, er konnte nicht einmal mit einem Knappen umgehen. Zwar hatte er nur zwei in Diensten gehabt, aber beide Versuche dieses zwischenmenschlichen Miteinanders hatten als Fehlschlag geendet. Er hatte sie rasch an andere Lords weitergereicht, an weniger selbstzerstörerische Männer, die fähiger als er gewesen waren, den beiden eine Zukunft und eine Gegenwart zu geben. Ein Knappe, zum Teufel, aber er konnte ja noch nicht einmal mit einem Hund zurechtkommen. Nicht mehr. Nicht nach London …
»Was wir haben, ist eine Frau, die weniger als mein Sattel wiegt.« Rys Stimme brachte Jamie zurück von den Straßen Londons und dem, was vor all diesen Jahren dort geschehen war.
Jamie presste den Oberschenkel gegen Dickons Flanke, und das Pferd wendete sofort. Er reagierte auf Rys Worte mit einem harten Blick.
»Was wir haben, ist eine Frau, die ihrem Begleiter wichtig genug ist, dass er ihr folgt, obwohl ihre Beute ihnen weit voraus ist. Ich muss herausfinden, was hier vorgeht, Ry, und ich muss das auf meine Weise tun. Wie ich es immer getan habe. Ich kann jetzt nicht plötzlich damit aufhören. Schließlich stehen Königreiche auf dem Spiel.«
Ein Bote taumelte in die Große Halle des mächtigen Baynard Castle in London.
Robert FitzWalter, Lord von Dunmow und Baynard Castle, Anführer des Rebellenheeres, schaute ärgerlich über die Schulter, bevor er weiter aus der schmalen Fensteröffnung sah. Seit einer halben Stunde stand er schon dort, starrte hinaus und grübelte.
Um ihn herum setzten seine betrunkenen Gefolgsleute ihr Gelage fort, feierten ihren triumphalen Sieg über die große Stadt. FitzWalter hatte jeden Grund, sich zu ihnen zu gesellen, denn sie hatten soeben den Coup so erfolgreich beendet, wie niemand es hatte vorhersehen können; sein Rebellenheer hatte soeben London eingenommen.
London gehörte ihm.
Sie hatten die Stadt eingenommen, ohne dass ein einziger Pfeil hatte abgeschossen werden müssen. Natürlich war es bedauerlich, dieses Fehlen eines Kampfes, aber die Stadtbewohner hatten den Rebellen die Tore geöffnet – da hätte man sie wohl kaum niedermetzeln können.
Aber jetzt brannte sie, wenn auch nur in Teilen, als die Männer das jüdische Ghetto plünderten. Soldaten mussten bezahlt werden. Plündern war leicht. Und am leichtesten ging das bei den Juden, was den zusätzlichen Nutzen hatte, dass man die Steine, aus denen ihre Häuser errichtet waren, für die Verstärkung der Stadtmauer verwenden konnte. Was nicht heißen sollte, dass man nicht auch Verwendung für geplünderte Klosterschätze hatte. FitzWalter war unvoreingenommen, wenn es um solche Dinge ging. Zumal dieser Kampf noch nicht zu Ende war.
Kleine und große Heere waren bereits unterwegs, strömten wie stählerne Flüsse auf die Stadt zu. Die Erben großer Besitzungen ritten unter FitzWalters Fahne, während ihre Väter ihre Burgen und Frieden mit dem König hielten. Das Land fiel auseinander wie Stoff, der fadenscheinig geworden war. Jeder war bestrebt. das Beste für sich herauszuholen. Niemand wusste, wie weit dies gehen oder wo es enden würde.
FitzWalter schaute auf das Pergament in seiner schwieligen Hand. Auf der rauen Fläche waren Zeile um Zeile mit schwarzer Tinte die Freiheitsrechte niedergeschrieben, die die Rebellen vom König verlangten.
Dieses Mal würde König John unterzeichnen.
Ihm würde keine andere Wahl bleiben. London, das Kronjuwel in der Reihe seiner mächtigen
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