Gefangene der Sehnsucht
müsst Ihr wissen. Jemand muss das wissen«, wiederholte Eva, und ihre Stimme klang plötzlich schroff. Aber es zu wissen, änderte nichts. Roger wusste es, und Father Peter wusste es, und doch blieb die schreckliche Schuld. Niemand konnte dafür die Absolution erteilen. »Aber die Countess Everoot ließ es mich schwören … und dann war da Roger …« Ihre Stimme brach, und sie schwieg, bis sie Jamie ohne einen Schleier aus glitzernden Tränen ansehen konnte. »Ja, Jamie, Massaker ist das treffende Wort. Der König hätte uns in jener Nacht alle getötet, hätte er es gekonnt.«
»Was erregte den Zorn des Königs?«, fragte Jamie.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er sie nicht ansah, sondern in die Flammen schaute. »Ich kann es nicht sagen«, murmelte sie.
Aber natürlich konnte sie es sagen. Sie wollte es einfach nicht. Solche Dinge erzählte man nicht. Geschichten darüber, dass eine verwitwete Countess Everoot und der gleichermaßen verwitwete Lord d’Endshire nicht nur la liaison amoureuse begonnen hatten, sondern auch versucht hatten, die Schätze in Sicherheit zu bringen, die verborgen in den Gewölben von Everoot Castle lagerten. Bevor es dem König einfiel, sie höchstpersönlich zu konfiszieren.
Aber alles andere … Eva wusste, alles andere würde ihr heute Nacht über die Lippen kommen. Sie fühlte es auf eine seltsame und unerklärliche Weise. Es war, als hätten die Worte sich seit zehn Jahren in ihrer Kehle gesammelt und würden jetzt herausgaloppiert kommen, sobald sie den Mund öffnete.
»Wir haben uns in der Mauer versteckt, Roger und ich. Wir haben ihn dabei beobachtet. Er hat Rogers Vater umgebracht, Lord d’Endshire. Der König weiß, dass wir es mit angesehen haben; dieses Wissen macht ihn nicht glücklich. Ich verbarg Roger in einer Spalte der Festungsmauer hinter mir.« Sie brach ab. »Dann kam Mouldin. Ich packte Roger und rannte davon.«
»Ihr seid mit dem Baby geflohen«, sagte Jamie. Es war eine leise ausgesprochene Feststellung.
»Er war kein Baby. Er war fünf.«
»Das ist ein Baby. Und seitdem hat niemand je wieder etwas von euch beiden gesehen?«
»Doch – Father Peter. Er stieß zu uns, viel später, im Wald. Ich denke, er hat geahnt, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Er pflegte als königlicher Reiserichter den Norden zu besuchen. Die Countess hatte ihn eingeladen, eine Weile auf Everoot zu bleiben. Er hat mir als Erster gezeigt, wie man zeichnet. Ich war noch sehr jung. Wir« – sie zuckte mit den Schultern – »waren uns im Wesen sehr ähnlich.«
»Und der Überfall im Wald, Eva?«
Sie gab es auf, die Wahrheit zurückzuhalten, die in dieser Nacht aus ihr herausströmte. Sie stieß einen Seufzer aus, legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zu den Ästen, die sich im Wind bewegten.
»Mouldins Männer«, gab sie zu. Warum auch nicht? Sie konnte kaum noch unterscheiden, welche Wahrheit bis jetzt ungesagt geblieben war. »Gog hat sie gesehen. Und zu seinem Unglück haben sie ihn auch gesehen. Und wisst Ihr, welch gute und dumme Sache er gemacht hat? Er ist auf sie losgegangen und hat versucht, sie daran zu hindern, Father Peter mitzunehmen.«
»Auf alle sechs?«
Sie nickte missmutig. »Das war eine weitere seiner manches Mal recht leichtsinnigen Entscheidungen. Wir sind ein Chaos, unsere kleine Familie, nicht wahr? Natürlich haben sie ihn niedergeschlagen, wie eine Mücke. Aber sie haben ihn nicht vergessen. Sie müssen Mouldin von dem kleinen Tier berichtet haben, das versucht hat, sie zu stechen, und er hat sie daraufhin zurückgeschickt.«
»Wie konnte eine Beschreibung eines Fünfzehnjährigen ihn aufhorchen lassen und an einen fünf Jahre alten Jungen erinnern?«
Eva starrte in die Flammen. »Ihr kennt Mouldin nicht. Er ist wie eine Wolfsfalle, nur Klauen und kalter Stahl. Er weiß, wann Erben für ihn fällig sind.«
Der Nachtwind strich wie eine weiche Hand durch das neue Laub des Frühlings und summte leise Schlaflieder. Das Feuer prasselte und flackerte auf. Vor den plötzlich hochlodernden Flammen war Jamie eine massive schwarze Silhouette.
»Wisst Ihr, was für ein guter Mensch Roger werden wird?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
Jamie drehte die Spitze seines Astes im Feuer, es war eine langsame, sehr kontrollierte Bewegung. »Das weiß ich. Ihr habt ihn gut erzogen. Ihr habt ihn zu einem Mann gemacht, der anständig und gut sein wird und der ohne Euch verloren gewesen wäre.«
»Und wenn Ihr ihn zu Eurem König bringt?«, fragte sie
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