Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
schon immer seine Leidenschaft.«
»Dein Bruder ist vor Hunderten von Jahren ins Oberland verschwunden«, erwiderte der andere. »Eine schöne Hilfe ist er uns jetzt hier unten.«
Ihr Gespräch erstarb. Zuvor hatten sich die Zwerge mit steinernen Spielfiguren auf einem bemalten Brett vergnügt. Nun, da die Kurzweil beendet war, lag das Brett achtlos neben ihnen. Das Mädchen strich über einen der kleinen, runden Steine. Er glich einer Perle. Mit dem passenden Werkzeug könnte sie ein Loch bohren und ihn auf eine Kette auffädeln. Das leise Murmeln der Zwerge hatte eine beruhigende Wirkung, auch wenn sich das Mädchen weigerte, ihrer Unterhaltung zu folgen.
»Vielleicht sollten wir sie zurück zu den Oberländern bringen«, schlug Brandl vor. »Sie haben Zauberer. Sollen die das Mädchen heilen.«
»Und genau das erhofft die Hexe«, grunzte Collum, »dass wir
uns an der Erdoberfläche zeigen«, seine Stimme wurde eindringlich, »damit sie uns wie den Rest unseres Volkes gefangen nehmen kann …!«
»Ruhig Blut, Collum«, sagte die Zwergin. »Wir alle haben geliebte Verwandte und Freunde an die Hexe verloren. Aber wir dürfen uns nicht in der Vergangenheit ergehen, wir müssen die Maschinen der Welt bestmöglich warten, bis Ravenna zu uns zurückkehrt. Mehr können wir nicht tun.«
Die Oberländerin warf den perlengleichen Stein in einem weiten Kreis in die Luft und reichte ihn geschickt von einer Hand zur anderen. Weitere Steine des Spielbretts folgten, scheinbar von selbst. Jemand musste sie das Jonglieren mit Steinen gelehrt haben, ein blauhäutiges Mädchen aus Bern? Eine Erinnerung zwickte sie, huschte dann fort. Geschwind zwang sie sich, ihr Bewusstsein auszuschalten. Gedankenlos ließ sie die Steine kreisen.
Mit dem Rücken zur Oberländerin murmelte Collum verbittert: »Wollte die Gottgleiche jemals zu uns zurückkehren, hätte sie es längst getan. Wir sind verloren, die ganze Welt ist verloren.«
»Hab Mut, du Narr!«, rief Maruha.
»Ravenna ist tot«, sagte der alte Zwerg.
Erschrocken wisperte Brandl: »Das kann nicht sein. Wenn sie tot wäre, spielte nichts mehr eine Rolle …!«, bevor Maruha ihn mit einem Zischen zum Schweigen brachte.
»Erliegt ihr der Verzweiflung, erliegt ihr der Hexe«, ermahnte sie Collum.
Abwesend beschrieb die Oberländerin mit den Steinperlen eine Acht in der Luft, den Blick starr auf das Feuer geheftet, einem
warmen Flammentanz, der sich aus einem Metallgefäß züngelte. Mit verschränkten Armen wendete sich Collum von Maruha ab, da sah er das Mädchen.
»Was tut sie denn jetzt schon wieder?«, rief er ungehalten.
»Dieses Werfen … Wie nennt man es gleich nochmal?«
»Jonglieren«, sagte Brandl. »Das macht sie andauernd.«
Während die Oberländerin die Steinkugeln wie auf einer unsichtbaren Schnur durch die Luft gleiten ließ, spürte sie die Hitze des Feuers über ihre Haut wandern. Schon einmal war ihr eine solche Hitze widerfahren, wenn auch noch glühender und von einer weit größeren und sonderbaren Flamme, die ihre Perle zum Leuchten gebracht und ihr den Schatten geraubt hatte. Aufgewühlt verbannte sie den Gedanken.
»Sie soll aufhören!« Der bärtige Zwerg rutschte beunruhigt hin und her. »Das ist Zauberei.«
»Nein«, sagte Maruha. »Lass sie in Ruhe!«
Jäh ließ die Oberländerin die Steine fallen, die sich zu einem Haufen neben dem Spielbrett auftürmten. Selbst dieser stumpfsinnige Zeitvertreib hatte Erinnerungen geweckt, die die Nadel missbilligte. Ein bohrender Schmerz schoss ihr durch den Schädel. Sie schloss die Augen und wartete, dass er verebbte. Sie war es so leid. Wenn sie doch nur auf ewig so dasitzen könnte, wohlig warm und gesättigt, mit leeren Gedanken … Nichts zu fürchten, nichts zu träumen, nichts zu sehen. Stille.
»Ich sollte mich auf den Weg machen.« Maruha rappelte sich auf. Sie schnappte sich die beiden leeren Wasserschläuche und rief im Weggehen: »Haltet Wache, und kümmert euch um das Mädchen!«
Collum stöhnte leise. Das blasse Mädchen schwelgte im warmen Flackern der Flammen. Maruhas Schritte verklangen im Tunnel. Sogleich schlug das Mädchen die Augen auf. Collum hatte die Spielsteine und das Brett verstaut und das verblichene Pergament aus der Tasche gezogen.
Brandl öffnete sein Bündel und holte eine winzige, schmale Harfe aus Silberholz mit goldenen Saiten hervor. Nie zuvor hatte sie so ein Instrument zu Gesicht bekommen. Er begann, an den Stimmwirbeln zu drehen, und polierte es behutsam mit
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