Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
darüber der dunkle Engel fliegt
Hinan auf Terrains Gipfelränder,
vom Königsturm, der abseits liegt,
Und zweimal sieben Mägdelein,
als Bräute holt er sie herbei:
Ein langer Weg aus trautem Heim;
vom Himmel tönt ein ferner Schrei …«
Von Panik erfasst lauschte das blasse Mädchen dem Reim. Brandls Gesang ließ Erinnerungsfetzen in ihr aufsteigen, wie es Worte nie vermocht hätten. Der Schmerz wurde brennender, peinigte sie. Bilder wirbelten durch ihr Bewusstsein: das Königreich Avaric, das von einem Engel der Nacht beherrscht wurde, der junge Mädchen raubte und sie zu seinen Bräuten machte. Ein Engel der Nacht, der sich in ein menschliches Wesen zurückverwandelte und auf einem geflügelten Schlachtross, eine Armee für seinen Kampf gegen die Hexe um sich scharte …
Die Oberländerin stöhnte, als sich die Nadel tiefer bohrte und qualvoll zustach. Keine Gewalt auf Erden konnte sich der unergründlichen Gedankenblitze erwehren, die nun durch ihren Kopf schossen. Ahnungslos sang Brandl in seiner klaren, glockenreinen Stimme weiter. Diese Worte! Sie ertrug die verworrenen Erinnerungen nicht. Jede einzelne Zeile des Reimes bereitete
ihr unerträgliche Pein. Die Nadel drehte sich, und eine weitere Welle des Schmerzes überrollte das blasse Mädchen. Sie schrie.
Sie sprang auf und stürzte sich auf den Quell der Musik. Erstaunt blickte Brandl hoch, als ihm das blasse Mädchen die Harfe aus der Hand riss, sie fortschleuderte und wild auf ihn einschlug. Mit einem erschrockenen Schrei wehrte er die Oberländerin ab. Collum zog sich hoch und packte sie an den Armen. Sie schlug um sich und wirbelte mit ihren nackten Füßen Sand auf. Für einen kurzen Moment spürte sie heißes Metall an den Fußsohlen, dann erlosch das Feuer.
»Verflucht!«, rief Collum. »Sie hat die Lampe umgeworfen.«
Das Mädchen rappelte sich hastig auf, und eine Hand flatterte an seine Brust, bedeckte die glimmende Perle, barg ihr Licht. In der nachtschwarzen Dunkelheit konnte sie nichts sehen, doch den anderen erging es keinen Deut besser. Sie hörte sie ungeschickt umhertapsen.
»Schnell, Junge, dreh die Lampe um, bevor das Öl ausläuft!« Das war Collums gehetzte Stimme.
»Das versuche ich ja!« Brandl. »Da, ich hab sie! Hol deine Zunderbüchse!«
Die Oberländerin wich zurück und taumelte blind den pechschwarzen Tunnel entlang. Schatten: überall Schatten! Sie umzingelten sie. Ihr fehlte der Atem, um zu schreien. Jemand durchsuchte fieberhaft ein Bündel, ein Feuerstein kratzte über Metall. Ein Funke glimmte in der Dunkelheit, noch einer, dann eine züngelnde Flamme. Sie duckte sich in einen Höhleneingang.
»Was ist wohl in sie gefahren?« Brandls Stimme klang weit
entfernt und von den Windungen des Tunnels verzerrt. »Bisher war sie immer so ruhig.«
»Deine verfluchte Harfenmusik«, knurrte Collum. »Durch die ist sie in Wut geraten.«
»Nein. Sie war schon vorher ruhelos, hat uns unverwandt angestarrt, als wolle sie etwas sagen.«
»Unsinn!«
»Als wäre dir das aufgefallen!«
Erschrocken wandte sich das Mädchen um und floh, verhüllte sein Licht. Sie sehnte sich nach Stille, bar jeglicher Pein und Erinnerung. Die Nadel hinter ihrem Ohr bohrte sich tiefer, stocherte in ihrem Bewusstsein. Das Mädchen begann zu wimmern, schluckte das Wehklagen hinunter, aus Angst, sich zu verraten. Die Stimmen der Zwerge waren nur noch hauchzarte Nachklänge, kaum hörbar über dem Flüstern seiner leichtfüßigen Schritte.
»Kürz den Docht, Junge! Warum unnötig Öl verschwenden …?«
»Collum, wo ist sie?«
»Was?«
» Collum ! Sie ist verschwunden!«
3
Wieselhunde
S ielag in totaler Finsternis. Wenn sie sich vollkommen stillhielt, würde die entsetzliche Kette unsinniger Bilder, die Brandls Lied heraufbeschworen hatte, nicht zurückkehren. Die Nadel hinter ihrem Ohr pulsierte immer noch, auch wenn die größte Pein verklungen war. Hier in der Dunkelheit fürchtete sie den Schatten, doch der verhängnisvolle Reim ängstigte sie weit mehr. Erschöpft schlummerte sie ein.
Ein schleppendes Schlurfen ließ sie jäh erwachen. Wie lange sie geschlafen hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Ihre Beine waren taub, ihr Magen war verkrampft, ihr Mund trocken. Sie zitterte so heftig, dass ihre Kiefer schmerzten. Etwas bewegte sich jenseits der Windung des schmalen Tunnels. Grausen erfüllte sie, als sie im nächsten Moment erkannte, dass es der Schatten sein musste. Dann kam Maruha um die Biegung des Ganges, mit einer flackernden
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