Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
einem weichen Ledertuch.
»Wäre besser, wenn dich Maruha bei diesem Unfug nicht erwischt«, murmelte Collum.
Schützend kauerte sich Brandl über das kleine Instrument, bevor er das Tuch wieder einsteckte. »Collum«, sagte er.
Der andere gab ein Geräusch von sich, das der junge Zwerg als Ermutigung deutete. »Erzähl mir, was du gehört hast«, sagte er mit einem Blick gegen die Decke. »Von dort oben. Vom Krieg.«
Raschelnd faltete Collum das Pergament auseinander und drehte sich weg. »Ich weiß nichts davon.«
Brandl beugte sich näher. »Doch, natürlich weißt du etwas! Du lauschst andauernd mit gespitzten Ohren. Und ich weiß, dass du mit den anderen redest, denjenigen, die sich an die Oberfläche wagen. Du kannst es mir ruhig sagen. Maruha wird nie davon erfahren.«
Der ältere Zwerg schnaubte und schwieg beharrlich. Abwesend beobachtete das blasse Mädchen die beiden.
»Ich weiß, ich bin jung«, sagte Brandl. »Aber der Krieg jagt
mir keine Angst ein. Nur die Ungewissheit . In letzter Zeit singen sie ein Lied über eine Zauberin im Oberland, die eine Armee aufstellt, um der Hexe zu trotzen.«
Collum fuhr zusammen und wandte sich um. »Wenn du es kennst, dann hast du gelauscht.«
»Das stimmt.« Brandl packte den älteren Zwerg am Arm. »Doch du könntest mir noch mehr verraten.«
Collum blinzelte in die Richtung, in die Maruha verschwunden war, und rutschte unruhig hin und her. »Also schön«, seufzte er. »Ich erzähle dir alles, was ich weiß, mein Junge, aber du darfst mich nicht verraten.«
Der junge Zwerg nickte begierig. Collum legte sein Pergament beiseite. Das blasse Mädchen sah, wie er ihr einen schnellen Blick zuwarf, doch ihr Kopf war leer. Was auch immer der Zwerg erzählen mochte, ermahnte sie sich, war bedeutungslos.
»Horch!«, begann Collum. »Vor ewigen Zeiten war diese Welt tot und entseelt … bis die Gottgleichen von Oceanus zu uns herabstiegen. Die Gottgleichen haben die Welt entstehen lassen und ihr Leben eingehaucht, Kräuter und Gräser gepflanzt, Menschen und Tiere geformt. Sie erschufen die hochgewachsenen Oberländer für die Erdoberfläche und uns hier unten, damit wir die Maschinen der Welt warten.«
Bei der Erwähnung von seinesgleichen huschte Collums Blick wieder zu dem Mädchen, dann zurück zu Brandl.
»Das weißt du alles, mein Kleiner?«
»Ja, ja«, beteuerte der junge Zwerg. »Maruha hat großen Wert auf meine Bildung gelegt.«
Collum schnaufte. »Und du weißt, die Gottgleichen herrschten
ungezählte Jahre weise und gerecht, bis Oceanus sie eines Tages, völlig unverhofft, nach Hause berief. Die meisten begaben sich sogleich in ihren Wagen aus Feuer auf den Weg, um niemals zurückzukehren. Eine Handvoll blieb zurück. Sie wollten uns nicht im Stich lassen. Doch selbst diese zogen sich in die Wüste zurück und verschanzten sich in ihren riesigen überdachten Städten. Nur Ravennas blieb offen, und die Menschen pilgerten in ihre Stadt aus Kristallglas.«
Der jüngere Zwerg nickte. Collum fuhr fort:
»Ravenna lehrte unser Volk das Bedienen der Gerätschaften für die Wasserströme und das Erzeugen von Luft, und sie erschuf die lons, mächtige Wächter, zum Schutz für die Oberländer. Aber selbst die Gottgleiche, in ihrer unermesslichen Weisheit, konnte den Untergang der Welt nicht aufhalten: Die Atmosphäre sickerte ins Nichts, die Wettermaschinen verfielen.«
Brandls Atem beschleunigte sich. »Dafür gibt es ein Wort«, flüsterte er. »Ein Wort der Alten Götter: Entropie .«
Collum bedachte ihn mit einem finsteren Blick, der den Jungen jäh verstummen ließ.
»Ravenna sah nur einen Ausweg aus dem endgültigen Niedergang der Welt«, sagte er, »aus dieser Entropie . Da Oceanus ihr Flehen nicht erhörte und sich die anderen Gottgleichen weigerten, ihr von jenseits der Tiefen des Himmels zu Hilfe zu eilen, reifte der Entschluss in ihr, uns aus sich selbst heraus zu erretten. Und so hat sie sich vor einem Dutzend Tausend Tagmonaten in ihre Stadt zurückgezogen und begonnen, einen bedeutsamen Zauber zu spinnen, der der Entropie Einhalt gebieten und die Welt erneuern würde.«
Collum nestelte an dem gefalteten Pergament und steckte es letztlich ein.
»All das ist dir bekannt, Brandl.«
Der junge Zwerg schnaubte ungeduldig. »Ja!«
Sein Gefährte warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, als wolle er sich vergewissern, dass Maruha wirklich verschwunden war. Wissbegierig beugte sich Brandl vor. Während das Mädchen sie beäugte,
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