Gefangene des Engels - Pierce, M: Gefangene des Engels - The Darkangel Trilogy: The Darkangel (1), A Gathering of Gargoyles (2), The Pearl of the Soul of the World (3)
über das Mädchen hinweg. Schreiend entriss sie sich dem Griff der anderen. Die dunkle Frau stand aufrecht da, hielt die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie war gute drei Zoll lang, mit einer Parierstange am stumpfen Ende, ähnlich einem winzigen Schwert. Weiße Flammen tänzelten über die Klinge. Die Spitze schimmerte, feucht und rot.
Die hochgewachsene Frau streckte den Arm aus. In ihrem Ausdruck waren Mitgefühl und Entsetzen und Kummer verwoben. Mit einem lauten Kreischen wehrte das blasse Mädchen sie ab. Seine Hand löste sich von seinem mit Blut besudelten Kopf. Das Gemach schien von grellem, gleißendem Licht durchflutet, die glühende Pein verzehrte die Oberländerin. Sie fürchtete, in
der überwältigenden Hitze zu versengen. Ein nicht enden wollender Schrei kam aus ihrer Kehle – doch längst nicht mehr wegen des Schmerzes. Sie schrie, weil die Erinnerungen zurückkehrten. Sie erinnerte sich an alles.
5
Aeriel
I hr Name lautete Aeriel. Sie erinnerte sich nun: geboren in Pirs, Thronfolgerin des Fürsten, dann, nach dem Sturz ihres Vaters, in die Sklaverei verkauft. Und sie erinnerte sich an den Engel der Nacht, der mit seinem Dutzend nachtschwarzer Schwingen zu ihr herabgetaucht war und sie fortgetragen hatte.
Durch Avarics flache Länder,
darüber der dunkle Engel fliegt …
Die Worte durchtränkten ihr Bewusstsein wie eine Beschwörungsformel. Sie rief sich den Hochzeitssari ins Gedächtnis, in den sie bei der Heirat mit dem Ikarus gehüllt gewesen war, und wie sie ihn mit einem magischen Kelch, gefertigt aus dem Huf des unsterblichen Sternenpferdes, überrascht hatte, um den bösen Zauber zu brechen, der auf ihm lag:
Dann wird der Zauberhuf des Sternenpferds
ihn unvermutet heiligsprechen,
Und eine Diamantenklinge
seine kalte Brust durchstechen.
Mit der scharfen Spitze einer unzerbrechlichen Klinge hatte sie das mit Blei überzogene Herz des dunklen Engels herausgeschnitten und ihm ihr eigenes eingepflanzt, ihn damit menschlich gemacht. Sobald der Zauber der Hexe gebannt war, hatte sich Prinz Irrylath voller Entsetzen gegen seine frühere Herrin gewandt und eine Armee aufgestellt, um sie zu zerstören.
Allein dann erheben sich des Krieges
Held und Schimmel,
Die Kampfgenossen alle,
und beben wird der Himmel.
Währenddessen hatte Aeriel die Hälfte aller Länder von Westernesse durchkämmt, um die verlorenen lons zu befreien, einst Wächter der Welt, die von der Hexe in Gargoyles verwandelt worden waren, denn ohne diese mächtigen Verbündeten hätte die erstarkende Streitkraft ihres Gemahls kaum Hoffnung auf Sieg.
»Was ist dir widerfahren?«, fragte die dunkle Frau, »nachdem du meine lons in Orm befreit hast, in der Flamme des Tempels standest und dein Schatten verbrannte?«
Aeriel konnte ihr Gegenüber nicht ausmachen. Die Stimme der Gottgleichen schien sich aus der Luft zu formen. Aeriel beschlich das Gefühl, als schwebte sie und würde sich in Nichts auflösen. Gleichzeitig vernahm sie eine weitere Stimme, murmelnd,
die alles verriet, bis sie schlagartig gewahrte, dass es ihre eigene war. Bilder von ihren Erinnerungen, die sie nun laut beschrieb, schossen in der Dunkelheit wie kleine wirbelnde Feuerfontänen in die Höhe.
»Nach Orm haben wir uns auf die Reise nach Isternes begeben«, hauchte sie.
»Wo die große Konklave stattfand?«
Aeriel nickte. »Ja.« Die aus Feuer geknüpften Bilder reihten sich in der düsteren Luft aneinander. »Doch zuerst haben die Priesterinnen und weisen Männer das Sternenpferd neu erschaffen. «
»Das tot war«, flüsterte die andere. »Das vor vielen Jahren vom dunklen Engel niedergestreckt worden war.«
»Die Priesterinnen behaupteten, sie könnten das Pferd wiedererwecken«, erwiderte Aeriel, »seine umherwandernde Seele zurückrufen und ihm neues Leben einhauchen, ein genaues Abbild seiner Selbst, mit Erinnerungen an sein früheres Leben und Sterben.«
»War ihr Versuch von Erfolg gekrönt?«, begehrte die Gottgleiche zu wissen. »Erzähl mir alles!«
»Oh ja«, wisperte Ariel, während ihre Erinnerung klar und deutlich zurückkam, so, als ereignete sich alles in diesem Augenblick. Sie nickte. »Das Sternenpferd. Ja. Ich erinnere mich.«
Die Menschenmenge hatte sich auf dem großen Marktplatz vor dem Palast von Isternes zusammengedrängt, all die Einwohner mit ihrer pflaumenfarbenen Haut, die Frauen mit Turbanen und hauchdünnen, flatternden Hosen, die Männer in ihren langen
Gewändern, die Köpfe gegen das weiße, brennende
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